Berlin, Rostock, Deutschland (Weltexpress). Zugegeben: Die Ankündigung seiner Autobiographie ähnelte mit seinem reißerischen Zeilen, den Absatz in kommerzieller Absicht nach oben zu treiben. Da hieß es: Olympiasieger gesteht Doping, litt unter Depressionen, hielt sich infolge seiner bipolaren Erkrankung zeitweilig für den Attentäter Amris Anri u.ä.!
Dem widersprach der Rostocker Christian Schenk (53), Zehnkampf-Olympiasieger 1988 in Seoul für das damalige DDR-Olympiaaufgebot, mit dem Hinweis auf seine aktuelle Privatinsolvenz, in derer keine persönlichen Einnahmen aquirieren könne.
Außerdem wäre die Bekanntgabe aus PR-und Absatz-Gründen vor den Europameisterschaften in Berlin sicherlich erfolgversprechender gewesen als nun im Nachhinein.
Die Bezeichnung Lebensbeichte im Begleittext dürfte für die Veröffentlichung am 3. September also schon zutreffen. Das von Schenk und seinem Co-Autor Fred Sellin verfasste Buch hat den Titel „Riss – Mein Leben zwischen Hymne und Hölle“, erschienen im Verlag Droemer HC, ISBN 978 – 3 426 – 27768 – 3, 19,99 Euro, E-Book 17,99 Euro.
Erstmals gibt der Rostocker darin öffentlich zu, gedopt zu haben und es auch gewusst zu haben, dass er dope.
Sein Einstieg in diesen Prozess war unspektakulär und typisch für das Dopinggeschehen im DDR-Sport. Und das, was Schenk dazu berichtet, korrigiert teilweisesensationsheischenden Darstellungen in den bundesdeutschen Medien nach dem Mauerfall.
Die berühmt-berüchtigten blauen Tabletten namens Oral Turinabol aus dem VEB Jenapharm wurden entgegen mancher Legenden nicht einfach so herumgereicht an alle, die an den Wunderpillen interessiert waren.
Schenk erinnert sich so an den Beginn der Einnahme von uM (unterstützenden Mitteln): „In meiner Erinnerung begann es nach der Junioren-Europameisterschaft 1983, wo ich Silber gewann. Eines Tages gab mir mein Trainer ein kleines Päckchen, das in Alufolie eingewickelt war. Er sagte, das sei ein Präparat, das den Muskelaufbau fördere. Dazu erteilte er mir die Anweisung, wie viele Tabletten ich täglich nehmen sollte und über welchen Zeitraum.“
Mehr wurde ihm nicht gesagt. Nichts über Nebenwirkungen oder gar Spätfolgen. Diesbezüglich gab es ja auch noch keine Erkenntnisse.
Der Junior wurde erst in das staatlich geförderte Dopingprogramm aufgenommen, weil die Experten überzeugt waren, hier einen Sportler mit Perspektiven vor sich zu haben, bei dem die Gabe von eigentlich verbotenen Medikamenten die angestrebte Leistungsverbesserung bis in die Weltspitze versprach. Sportlern mit limitierten Fähigkeiten wurden zumindest offiziell nicht der Zugang zu den rezeptpflichtigen Tabletten gestattet.
Allgemein wird der Leistungszuwachs durch Anabolika wie Turinabol unterschiedlich nach Disziplinen in der Leichtathletik mit bis zu 5 % taxiert. Ein bundesdeutsches Testprogramm mit Billigung des Gesundheitsministeriums in den 70er Jahren ergab jedoch, dass solche Medikamentierung im Mittel- und Langstreckenlauf keine signifikanten Leistungssteigerungen brachten.
Unklar scheint der Nutzen der blauen DDR-Starkmacherim Zehnkampf zu sein. Schenk wurde 1988 in Seoul mit deren Einsatz Zehnkampf-Olympiasieger mit 8488 Punkten. Dann kam die Wende, der Mauerfall. Die besten Mehrkämpfer aus Ost und West gründeten ein Zehnkampfteam. Und bekannten beide den Gebrauch unerlaubter Medikamente zur Leistungssteigerung, der fortan für sie tabu sein sollte. Verpflichteten sich, die üblichen Dopingkontrollen durch Team-eigene zu ergänzen.
Man darf davon ausgehen – und Schenk bestätigt den Sachverhalt-, dass jener nun als „sauberer“ Athlet von 1990 bis 1993 unter bundesdeutscher Flagge sprang, warf und lief. Und er erreichte 1993 als WM-Vierter mit 8500 Zählern eine neue persönliche Bestmarke.
Offenbar gibt es im Hochleistungssport legale Mittel (die nicht auf dem Dopingindex stehen) Mittel und Möglichkeiten, auch ohne den Gebrauch von anabolen Stereoiden (wie Turinabol) sein Leistungspotenzial auszuschöpfen.
Mitte und Ende der 60er Jahre kam das Doping nach Ost und West
Allgemein wird dem durchorganisierten und auf maximales Renommee ausgerichteten DDR-Sport zugeschrieben, die Ära des Dopings begründet zu haben.
Dies aber dürfte nicht zutreffen. Die Kenntnis von „Wunderpillen“ und Starkmachern in Tablettenform gelangte Mitte/Ende der 60-er Jahre über den großen Teich in das geteilte Deutschland. In die Bundesrepublik durch die Zehnkämpfer-Abteilung des TSV Bayer 04 Leverkusen. „Wir machten in Deutschland und in Kalifornien gemeinsame Trainingslager mit den Amerikanern. Als wir nach harten Trainingseinheiten völlig platt waren und die Amerikaner dagegen rasch erholt und putzmunter waren, erfuhren wir von den medikamentösen Fitmachern“, erzählte ein bundesdeutscher Topathlet jener Jahre.
Während das Wissen über von leistungssteigernde Wirken von Eiweiß- und Hormon-Präparaten längere Zeit im Umfeld des „Pillenvereins Bayer 04“ blieb und so anfangs nicht bundesweit genutzt wurde, machte der zentralistisch geführte DDR-Sport daraus bald ein staatlich gefördertes Dopingprogramm.
Aufmerksam geworden waren seinerzeit die DDR-Fachleute- und Trainer durch entsprechende Veröffentlichungen in der bundesdeutschen Fachzeitschrift „Leichtathletik“.
Mit O’Brien kam das Doping aus den USA nach Europa
Ein Korrespondent der Zeitschrift berichtete über den seinerzeit das Kugelstoßen dominierenden US-Athleten Parry O ‘ Brien. Auch dank seiner neuen Angleittechnik mit dem Beginn Rücken zur Stoßrichtung, schaffte er heute kaum vorstellbare elf Verbesserungen des Weltrekords, wurde u.a. 1952 und 1956 zweimal Olympiasieger!
O’Brien berichtete freimütig – Doping-Verbotslisten oder Doping-Tests lagen noch in weiter Ferne – über Einnahme kleiner weißer Tabletten. So würde er dem Körper reichlich Eiweiß zuführen. Als Grundlage für Kraft und Muskelwachstum. Und besser vom Magen zu verarbeiten als fünf oder sechs saftige Steaks.
„Wir ochsen im Kraftraum an den Hanteln intensiver als O’Brien und der stößt locker ein bis zwei Meter weiter. Aber jetzt wissen wir, was noch dazu kommt“, war die Reaktion im Lager der DDR-Athleten.
Durch den schwedischen Diskuswerfer Ricky Bruch und seiner Jagd auf die 70-er Traumgrenze (1976 mit 71,26 m geschafft) wurde die leistungssteigernde Wirkung entsprechender Dopingmittel bestätigt. Der Popstar im Wurfring plädierte später ganz offen für die Freigabe des Dopings.
Jedenfalls wurde irgendwann ein hochrangiger Funktionär des DDR-Sports auf geheime Dienstreise mit einem dicken Bündel an Devisen (West- )Mark nach Holland geschickt, um Dopingpräparate auf dem grauen Markt zu ordern. Die wurden dann bei VEB Jenapharm analysiert und daraus entstanden in klassischer Nachahmerproduktion die erwähnten Turinabol-Tabletten.
Turinabol hat, verbunden mit außergewöhnlichem Talent und systematischem Training einer Vielzahl von international erfolgreichen DDR-Athleten jenes Quäntchen Mehr an Leistung ermöglicht, was für den Sprung auf’s Siegertreppchen notwendig war.
Christian Schenk hat Wochen vor dem olympischen Triumph 1988 in Südkorea auch jene Tabletten konsumiert. Heute leidet er an Depressionen mit dem Krankheitsbild von bipolaren Störungen.
In den sozialen Netzwerken kreiden ihm Kritiker aber eher jene Aussage an: „Ich würde nicht die Olympiamedaille zurückgeben.“ Sie werfen ihm Betrug vor durch den Einsatz der unerlaubten Substanzen. Schenk bewegt sich auf seiner Verteidigungslinie argumentativ ähnlich wie Jan Ullrich. Der bis heute einzige deutsche Tour de France-Sieger – wie Schenk in Rostock aufgewachsen – fühlt sich nicht als Betrüger, weil er davon ausgeht, dass alle Konkurrenten mit Ambitionen auf einen vorderen Rang, die strapazenreiche Tour nur mit medizinischen Hilfsmitteln bewältigt haben.
Daran dürfte kein Zweifel bestehen. Ist Ullrich ein Betrüger, wenn er dasselbe wie alle Fahrer im Feld getan hat?
Bibliographische Angaben
Christian Schenk, Riss, 256 Seiten, Hardcover, Verlag: Droemer HC, München, September 2018, ISBN: 978-3-426-27768-3, Preise: 19,99 EUR, E-Buch: ISBN: 978-3-426-45350-6, Preis: 17,99 EUR