„Von der Angst befreit haben mich die Begegnungen mit Hunderten von Palästinensern“ – Israelische Menschenrechtsorganisation Machsom Watch wird 20 Jahre alt

Hanna Barag, 85, ist eine der ältesten Mitstreiterinnen bei CHECKPOINT WATCH (CW). Die Aufnahme entstand bei einem Vortrag vor ausländischen Journalisten, Diplomaten u.a. in Jerusalem. Während die Organisation selten eine Einladung in israelischen Schulen erhält, werden Frauen von CW häufig von Pilgergruppen, Diplomaten, … in Jerusalem oder Tel Aviv eingeladen, ebenso zu Konferenzen in Europa und Übersee. Sie sagt in ihrem eigenen Deutsch: „Wir wollen die Besatzung nicht gemütlicher machen, sondern ganz weg machen.“ Sie und ihre Mitstreiterinnen werden in Israel so gesehen: „Wir sind in diesem Land gehasst.“© Foto/BU: Johannes Zang

Berlin, Deutschland (Weltexpress). „Meine Kinder glauben, dass ich keine gute Patriotin bin“, erzählt Ronny Perlman. Ihre Söhne, beide Offiziere, wählen dieselbe Partei wie sie, haben jedoch keinerlei Verständnis für den Menschenrechtseinsatz der Mutter. „Leider kann ich meine Erfahrungen nicht einmal meinen Söhnen vermitteln. Da ist eine Mauer zwischen uns.“ All das schmerzt die über 70-jährige israelische Jüdin. „Dabei tue ich meinen Dienst bei Machsom Watch aus Patriotismus“, versichert sie. „Wir Frauen tragen zum guten Ruf Israels bei. Wir sind es, die unserer Gesellschaft, die am Abgrund steht, zurufen: Geht bitte nicht weiter!“

Vor genau 20 Jahren, mitten im 2. Volksaufstand (Intifada) der Palästinenser gegen die Besatzungsmacht Israel gründeten drei Jüdinnen Machsom Watch (hebr. Machsom ist Kontrollpunkt), darunter auch Ronnys Vornamensvetterin Ronny Hammerman. Sie waren überzeugt, jemand müsse beobachten und dokumentieren, was an den Armee-Kontrollpunkten geschehe und notfalls einschreiten. Damals gab es über 700 Hindernisse, bemannte und unbemannte, an der Grenze zu Israel und zwischen zwei palästinensischen Dörfern mitten im West-Jordanland, das nicht einmal halb so groß wie Schleswig-Holstein ist. Ronny Hammermans Urteil ist klar: „Die Kontrollpunkte selber sind eine Menschenrechtsverletzung. Es ist nicht einzusehen, dass zwischen einer palästinensischen Stadt wie Nablus und seiner Vorstadt Huwwara ein riesiger Kontrollpunkt aufgestellt wurde.“ Die Mehrzahl aller bemannten Kontrollpunkte seien interne Kontrollpunkte im West-Jordanland und trennten Palästinenser von Landsleuten.

In den ersten zwei Jahren gewann die Organisation etwa 500 Frauen dazu. Sie stehen zu zweit an bemannten Kontrollpunkten, verfolgen Anhörungen vor dem Militärgericht oder halten sich vor israelischen Gebäuden in den besetzten Gebieten auf, in denen über Passierscheine – Reisegenehmigungen – entschieden wird, um notfalls Palästinensern bei ihren Anträgen zu helfen und sei es nur als Dolmetscher. An ihren Jacken oder Blusen ist das Logo der Organisation angebracht, das Beobachtungsauge. Daneben steht auf Hebräisch, Arabisch und Englisch: Frauen gegen die Besatzung und für Menschenrechte. Manche Frauen arbeiten auch am Computer und schreiben sich buchstäblich in zahllosen Emails an die „israelische Zivilverwaltung“ oder „Bezirkskoordinationsstelle DCO“ die Finger wund. Ihr Anliegen: Dass diese Stellen den Sicherheitsstatus der Palästinenser auf „schwarzen Listen“ überprüfen und im Idealfall die betreffende Person von der Liste streichen. Erst dann kann mit Erfolg rechnen, wer einen Passierschein-Antrag stellt. Allein zwischen 1. März und 5. April 2020 „flossen 410 Emails hin und her“, heißt es im Frühlings-Newsletter 2020.

Aktivistin Zipi A. fasst all ihre Erfahrungen so zusammen. „Erst dann weiß man Bescheid und versteht etwas, wenn man selbst in den besetzten Gebieten gewesen ist und sich dort umgesehen hat.“ Die 75-jährige Tal versichert: „99 Prozent der Kontrollpunkte haben nichts mit Sicherheit zu tun.“ Aus Gesprächen mit Palästinensern weiß die Frau aus Tel Aviv nur zu gut: „So viele Palästinenser leben eine halbe Stunde von hier und haben das Mittelmeer noch nicht gesehen.“

Zurück zu Ronny Perlman: Über 15 Jahre stand sie Sonntag für Sonntag zwischen drei und vier Uhr morgens auf. Um fünf Uhr begann ihr Dienst am bemannten und massiv gesicherten Kontrollpunkt Qalandyia zwischen Jerusalem und Ramallah. Anfangs hatte sie „Angst vor dem Anderen, dem Fremden, dem Palästinenser.“ Ihre Angst fiel allmählich ab. „Von der Angst befreit haben mich die Begegnungen mit Hunderten von Palästinensern am Kontrollpunkt.“

Immer wieder haben sie und ihre Kolleginnen das Gespräch mit den Soldaten gesucht, ihr Tun und Lassen hinterfragt, ihnen ins Gewissen geredet. „Ja, manchmal kommt es zum Gespräch, dann sage ich Sätze wie: Du siehst einen potentiellen Terroristen und ich sehe einen müden Mann.“ Ihre Erfahrungen in Qalandyia lassen sie schlussfolgern: „Damit quält man die Bevölkerung.“ Israels Politik in den besetzten Gebieten nennt sie ohne Umschweife „Apartheid“.

Nun hat Frau Perlman wegen ihres Umzugs nach Tel Aviv ein neues Einsatzgebiet: eines der landwirtschaftlichen Tore entlang der Mauer, durch die palästinensische Bauern mit Passierschein zu bestimmten Zeiten ihre Äcker oder Obstplantagen westlich der Barriere erreichen können. Ihre Mitstreiterinnen wurden über die Jahre weniger und zählen derzeit noch knapp 300, von denen die meisten über 60 Jahre alt sind.

Ihnen allen wurde der israelische Emil-Grünzweig-Menschenrechtspreis, der Aachener Friedenspreis und die Hermann Maas-Medaille verliehen, letztere „für Versöhnung und Verständigung zwischen zwei Nationen und Religionen“, wie der Politiker Ruprecht Polenz in seiner Rede sagte. Ihre Arbeit geht angesichts von zuletzt 593 gezählten Kontrollpunkten und anderen Hindernissen weiter. Und Ronny Perlman hofft auf ein Wunder. „Denken Sie an Nelson Mandela oder den Fall der Berliner Mauer. Das war doch die totale Überraschung. Es muss sich hier bald das Blatt wenden.“ Wichtig wäre es ihr, die Europäische Union davon zu überzeugen, Israel den Siedlungsbau zu verbieten. „Leider hat die deutsche Regierung so große Angst, als anti-semitisch bezeichnet zu werden.“ Ronny Perlman hat auch Angst: Dass ihr kleiner Enkel in wenigen Jahren als Soldat ums Leben kommen könnte. „Es muss sich was ändern“, sagt sie flehend.

Anmerkungen:

Weitere Informationen auf der Heimatseite https://machsomwatch.org/en im Weltnetz.

Yehudit Kirstein Keshet: Checkpoint Watch. Zeugnisse israelischer Frauen aus dem besetzten Palästina, Verlag: Nautilus, 2007

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