Von Anarchie bis Parkopan – Weimar in den 80ern, eine herausragende Text-Sammlung von einer anderen Jugend

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Jugend. Irgendwo? Nein, hier ganz konkret verortet und verblüffend genau rekonstruiert. Weimar um 1980. Vier Jungs damals, vier Haudegen mit Narben auf dem Buckel heute. Vier verschiedene Ansätze, den eigenen Lebens-Roman zu erzählen. Da ist Thomas Onißeit, der mit Bukowski im Herzen säuft und träumt, da sticht sich Ulrich Jadke die ersten Sicherheitsnadeln durchs Ohr und hört Östro 430, Jörn Luther radelt seinem ersten Versagen entgegen und Holm Kirsten kaspert auf Kirchenbänken. Das immanente Programm sollen sie beibehalten, der äußere Anlass für diese Sammlung ist jedoch ein anderer. Irgendwann inmitten des wilden Probierens, Saufen und Pogens gab es eine Sprühaktion, die für sechs Jugendliche Weimars anders ausging als anderswo. Weimar 1983, Herbst, Vorabend des Republikgeburtstages – und ein paar Kids mit orangesprühenden Spraydosen. Texte im Kopf, Losungen einer Schweizer Protestaktion, Songs von Ina Deter, Dada – all das platze heraus auf die Wände ihrer grauen Heimatstadt. Thomas Onißeit:

„SCHLAGT ZURÜCK – Na klar, wir waren gerade dabei. WEHR DICH! – Das lag uns ebenso am Herzen, und nun hatten wir damit begonnen. ALLE MACHT DER PHANTASIE – Wir lebten ohne Zweifel im phantasielosesten Land der Welt”¦ Diese und viele andere Parolen fanden ihren Weg an die Hauswände. Geradezu rauschhaft hielten wir nach geeigneten Flächen Ausschau”¦ Jörn hat das Statement unserer jugendlichen Überheblichkeit gesprüht, stellvertretend für uns alle an die Adresse der Stasi gerichtet: DAS KRIEGT IHR NIE RAUS; WER DAS WAR. Leider irrten wir uns da gewaltig.“

Was folgte, lässt sich bereits aus dem Titeln der kommenden Geschichten erahnen; „Zuführung“, „Handschrift“, „Der Morgen danach“, „Die ersten Stunden.“ „Knackwurst, Zelle Nr. 30, Die Anklageschrift“. Holm Kirsten:

„Der Staatsanwalt läuft rot an und macht den Mund auf, winkt aber schließlich ärgerlich ab. Jetzt richtet er das Wort an mich: ’Angeklagter Kirsten, hätten Sie die Garage Ihres Vaters auch mit Farbe besprüht?` Ich teile mit, dass mein Vater gar kein Auto, geschweige denn eine Garage besitzt. Leises Murmeln geht durch den Saal. Der Staatsanwalt scheint kurzzeitig keine Fragen mehr zu haben. Dann doch; ’Gut, nehmen wir doch die Aktentasche Ihres Vaters. Hätten Sie die denn auch besprüht?` Wahrheitsgemäß antworte ich, dass mein Vater auch keine Aktentasche besitzt. Im Publikum ist ein unterdrücktes Glucksen zu vernehmen.“

Den Beschreibern ihrer eigenen Jugend gelingt das seltene Kunststück, mit Distanz und Witz ein eigentlich schwer zu verdauendes Stück Repressionsgeschichte der jüngsten Deutschen Diktatur greifbar darzustellen. Amüsant, tieftraurig oder frech kobolzend. Der Staat schoss mit Kanonen auf seine renitenten Spatzen und platzierte seine Zuträger mitten in die bunte Schar. Dass fast dreißig Jahre vergehen mussten, um ein Buch über diese Zeit herauszubringen, hat dem Ergebnis nicht geschadet. Im Gegenteil, hier haben vier Protagonisten behutsam ausgewählt, geordnet und bedacht, was sich warum wie zugetragen hat und wie es sich erzählen lässt. Die Textsammlung ist stark biografisch und dennoch ambivalent, steht für die Unruhe, das Aufbegehren von Jugend im besten Falle. Ergänzt wurden die chronologisch bis zum Zusammenbruch der DDR führenden Beiträge durch eine kluge Studie des Herausgebers.

Wie es weiterging mit den Jungs? Sie stellten noch allerlei Unfug an, blieben im Lande oder entfleuchten nach Westberlin. All das begleitet von herrlichem Geschepper; Holm Kirsten:

„Wir hatten Gedichte geschrieben. Wir hatten in Öl gemalt. Wir hatten Filme gedreht. Jetzt war es an der Zeit, eine Band zu gründen.“

Fazit: Lesenswert für den Nachwuchs von Alaska bis Australien – und den an eigener Kleinstadtjugend geschulten Leser von Beeskow bis Wanne-Eickel. Auf den Lehrplan der Schulen damit, lasst die Youngster gepflegte Rebellion lernen; Macht aus dem Staat Gurkensalat!

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Ulrich Jadke, Holm Kirsten, Jörn Luther, Thomas Onißeit, Macht aus dem Staat Gurkensalat!, Eine andere Jugend. Weimar 1979 – 1989, Herausgeber: Rüdiger Haufe, 289 Seiten, wjs Verlag, Berlin, August 2011, 19,95 €

Weiterführend:

http://www.freitag.de/datenbank/freitag/2011/32/mit-graffiti-gegen-die-langeweile/print

Buchpremiere am 10.09.2011 in Weimar im E-Werk, weitere Termine:

http://www.wjs-verlag.de/books/66,macht-aus-dem-staat-gurkensalat/#tabbox

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