Vom Verstummen – Berlinale Wettbewerb: Semih Kaplanoglu schmiert mit „Bal“ dem Zuschauer keinen Honig ums Maul

Erdal Besikcioglu und Bora Altas

Überhaupt deutet sich sehr vieles an, von dem wir, die wir nicht in der Türkei auf dem Land völlig abgelegen in einer Berggegend leben, einfach nicht wissen, was es bedeuten soll. Das fängt schon mit dem sechsjährigen Yusuf (Bora Altas) an. Ein von den Eltern geliebtes Kind und ein von dem Lehrer liebevoll mit Verständnispädagogik behandelter Schüler. Doch als ihm eines Tages sein Vater Yakub (Erdal Besikcioglu) auf seinen nächtlichen Traum hin, den der Sohn erzählt, erwidert, Träume würde man anderen nicht weitersagen, bricht wohl für den Jungen eine Welt zusammen, ist doch der Vater der vertrauteste Mensch und sein Leitbild. Denn anschließend fängt er, der gute Leser, in der Schule an zu stottern. Dann redet Yusuf immer weniger, bis er schließlich ganz verstummt. Aber das ist, als der Vater ohne ihn zur Ernährung der Familie in die Berge zieht.

Soweit sind wir jedoch noch nicht. Denn erst einmal wird in aller Ausführlichkeit das Tagewerk der Familie begleitet. Die Handreichungen des Vaters, die er vom Säubern der Bienenkörbe bis zum erneuten Anbringen hoch oben in den Baumwipfeln über raffiniert angebrachte Seile vollbringt, werden von der Kamera meist stumm minutiös begleitet, genauso wie die stumm verrichtete Hausarbeit der Mutter Zehra (Tülin Özen) oder ihre Arbeit in der Teeplantage. Auch das Familienleben begleitet die Kamera meist stumm, unterbrochen von den Mahnungen der Mutter an das Kind, die Milch auszutrinken. Dabei darf man sich nicht eine repressive Erziehung vorstellen, beileibe nicht, und eine Szene zeigt geradezu rührend die tiefe Verbundenheit von Vater und Sohn. Als die Mutter wieder einmal – ganz lieb auch sie – das Trinken der Milch anmahnt, ergreift der Vater das Glas und leert es mit einem Zug, was ein glückliches Lächeln auf das Gesicht und tief in die Augen seines Sohnes zaubert, was ja nicht der Milch gilt, sondern der Liebe und dem Vertrauen zum Vaters.

Das Schweigen im Film und die allgegenwärtige Stummheit, ist also keine feindliche, sondern vielleicht die normale Haltung dieser Menschen, weit abseits von den geschäftigen und geschwätzigen Zentren in der Türkei. Wir wissen es einfach nicht. Allein die Szenen in der Schule sind lebendige Sprechakte und diese immer wieder eingespielten Schulaufnahmen sagen mehr über pädagogisches Handeln in den angeblich pädagogischen Provinzen aus als gelehrte Aufsätze. Und sie sagen das Positivste über Lernsituationen, was sich denken läßt. Und weil wir das selber so erlebt haben, glauben wir dem Regisseur und seinen Aufnahmen und finden diesen Lehrer, der hier den Anfangsunterricht Lesen und Schreiben und Rechnen erteilt, einen wunderbaren Pädagogen.

Als Yusuf das erste Mal in der Schule stottert und zwar total, da thematisiert der Lehrer dies nicht, dramatisiert es auch nicht, sondern lobt den Jungen, daß dieser nämlich überhaupt etwas herausbekam. Die Pädagogik des Lehrers ist eine der Reformbewegung der Zwanziger Jahre in Deutschland, daß die positive Verstärkung mehr bewirkt als Zwang und negative Abstrafung. Das müßte man unseren heutigen Hochleistungslehrern einmal vorspielen, diese Szenen, wo ein Kind für seinen noch völlig untauglichen Versuch des Lesens allein für das Versuchen belobigt wird, ein Abzeichen erhält und auf Forderung des Lehrers von der ganzen Klasse beklatscht wird. Das sind dann so Details im Film, die dessen Stimmung ausmachen und wo wir dem Film so gut folgen können, weil wir die Umstände kennen.

Aber dies kann die Irritation ob anderer Teile des Films, die uns einfach leer lassen, nicht aufwiegen. Es bleibt ein Unbefriedigtsein zurück ob unseres Nichtverständnisses, gerade weil wir gerne verstehen möchten. Im übrigen gibt es wunderbare Naturaufnahmen, der Wald ist schweigend und aus den Wiesen steigt es auch auf und es gibt so viele Blumen und Tiere zu sehen, die der Vater dem Jungen als Begriff und im Wesen nahebringt. Allein es wird kein Strauß daraus und ein Rudel auch nicht. Was wir, wir gestehen es, sehr gerne gehabt hätten, denn Menschen, die auf dem Land und dort noch abgeschieden leben, sind sicher nötiger durch Filme uns nahezubringen, als die xte Version einer Komödie aus der Stadt.

Titel: Bal

Land/Jahr: Türkei/Deutschland 2010

Regie: Semih Kaplanoglu

Darsteller: Bora Altas, Erdal Besikcioglu, Tülin Özen

Bewertung: * * * *

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