Berlin, Deutschland; Innsbruck, Österreich (Weltexpress). Knapp eine Woche und vier Wettkampfsprünge durfte Markus Eisenbichler vom großen Triumph träumen. Da lag der Deutsche bei der 67. Vierschanzentournee der Skispringer nach zwei zweiten Plätzen nur rund vier Punkte und etwas mehr als einen Meter hinter dem Tourfavoriten Ryoyu Kobayashi zurück.
Doch nach der dritten von vier Stationen, am Freitag in Innsbruck, vergrößerte sich der Rückstand auf den 22-jährigen japanischen Überflieger auf rund 45 Punkte!
Bei der letzten Flugschau dieses prestigeträchtigen Spektakels am Sonntag in Bischofshofen dürfte dem Saison-Dominator, der in Innsbruck seinen sechsten Weltcup-Erfolg verbuchte, unter normalen Umständen der Gesamtsieg nicht mehr zu nehmen sein. Er könnte sich im schlimmsten Falle sogar einen Sturz leisten. Eher aber dürfte sein, dass Kobayashi auch hier der Gegnerschaft davonspringt. Und damit als dritter Akteur nach dem Deutschen Sven Hannawald 2002 und dem Polen Kamil Stoch im Vorjahr mit einem Tournee-Grand-Slam, der Vierfachsiegesserie, in die Chronik eingeht.
Eisenbichler nicht unglücklich über Platz 13
Der 27-jährige Oberbayer Markus Eisenbichler ist am Berg Isel mit Platz 13 drittbester Deutscher nach Stephan Leyhe (4.) und Richard Freitag (8.) geworden. Eine Rangfolge, die vor der Tournee als normal eingestuft worden wäre. Aber nach Eisenbichlers beiden Podiumplätzen in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen von Medien und Zuschauern als enttäuschend wahrgenommen wurde.
Nicht aber vom Mann aus dem beschaulichen Siegsdorf, der vor gut einem Jahr bei den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang nicht einmal zum vierköpfigen Aufgebot gehörte, das Bundestrainer Werner Schuster für das Mannschaftsspringen nominierte. Und so die olympische Silbermedaille verpasste.
Eisenbichler hat auch nach dem Innsbrucker Ergebnis nicht vergessen, wo er herkommt. Er sei insgesamt nicht unglücklich, sagte er. Sein Sprung sei einfach zu schwach gewesen, um das zu beherzigen, was ihm der Bundestrainer aufgetragen hatte. Dranbleiben, möglichst lange dranbleiben am schier übermächtigen Kobayashi. Bis jener sich vielleicht einen Fehler erlaube, eine Schwäche zeige.
Die ausbalancierte Gemütslage von Eisenbichler, der mit 27 noch immer auf seinen ersten Weltcupsieg (die Tournee-Wettkämpfe werden auch als Weltcups gewertet) wartet, hängt damit zusammen, dass es bisher für ihn „eine geile Tounee“ war und er ja in der Gesamtwertung auf dem zweiten Platz liegt. Rund vier Punkte vor dem Norweger Andreas Stjernen, der am Freitag hinter Kobayashi und dem Österreicher Stefan Kraft Dritter wurde.
Eisenbichler ist nach der misslungenen Qualifikation in Innsbruck (32.) nicht der Versuchung erlegen, dem „brutal guten“ (so Eisenbichler) Kobayashi mal mit einem brutal agressivem Gewaltversuch auf den Leib zu rücken. Das unternahm Kraft, immerhin Tourneegewinner 2015, Weltmeister 2017 und Skiflug-Weltrekordler mit fantastischen 253,5 m, jedoch auf der zweiten Station in Garmisch. So schnellte er sich bei seinem Absprung mit aller Gewalt und zu früh nach oben und fiel viel zu früh auf den Hang. Rang 49, den zweiten Durchgang verpasst, alle Tourneechancen verloren…
Kobayashi profitiert von einer Regeländerung vor der Saison
Bleibt das Phänomen Kobayashi zu beschreiben. Befragt, wie er sich bei etlichen wenig japanischen Eigenschaften selber sehe, kam mit Hilfe des Übersetzers die Neuschöpfung „Neo-Japaner“ zustande. Auf nachfragen dann ein etwas „verrückter Japaner“!
Die Erläuterung für in Japan unübliche Jubelreaktionen nach einem gelungenen Sprung schon im Auslauf. Das Bad in der Menge. Die Geduld beim Frage-Antwortspiel mit den Medien. Seine Aktivitäten in den sozialen Medien mit allerlei Fotos und Momenten als DJ. Dazu passen Armbänder, wie sie überall auf der Welt als Glücksbringer gelten.
Mit Neo-Japaner dürfte er wohl einen modernen jungen Mann gemeint haben. Auch mit einer Vorliebe – wie auch fast alle deutschen Springer – für schnelle Autos. So konnte der Sohn eines Sportlehrers, dessen Schwester und zwei Brüder gleichfalls dem Skispringen frönen, vor allem dank des Gehalts als Angestellter eines Springer-Firmen-Teams bereits früh mit einem Porsche Cayman durch die Gegend kutschieren. Obwohl damals noch ohne einzigen Weltcup-Punkt auf dem Konto. In dieser ersten Wettkampf-Kategorie folgte er vor zweieinhalb Jahren seinem fünf Jahre älteren Bruder Junshiro.
Im Frühjahr 2017 kam Ryoyu unter die Fittiche des finnischen Trainers Janne Väätäinen. Der 43-Jährige steht seit 2010 im Wintersport-Zentrum Sapporo in Diensten des japanischen Verbandes. Väätäinen überzeugte den jungen lebensfrohen Schützling, der heute zugesteht zeitweise faul im Training gewesen zu sein und sich zu viel hat ablenken lassen von sportlichem Streben nach Höchstleistungen, dass Porsche-Fahren ihn auf der Schanze nicht weiterbringen würde.
Also trainierte Kobayashi fleißiger denn je. Und profitierte in dieser Saison von einer Regeländerung des Weltverbandes FIS. Zur Ermittlung des Bodymassindexes BMI, der das Verhältnis von Körpergewicht zur Körpergröße beinhaltet und gegen das gesundheitsgefährdende Gewichtemachen gerichtet ist, wird der Sportler nun ohne Skischuhe gewogen. Das bedeutet weniger Gewicht, einen kleineren BMI-Wert und kürzere Ski.Sein Gewicht wird bei 1,73 m Körperhöhe mit 60 kg angegeben. Viel im Vergleich beispielsweise mit europäischen Konkurrenten. Da fallen im geheizten Wartezimmer vor dem Sprung die überaus dünnen Ärmchen ins Auge. TV-Bilder vom Sommertraining bestätigen den Eindruck von einem Trend seit dem damals der Magersucht verdächtigen Hannawald „Leicht fliegt weiter“.
Toni Innauer, Österreichs Skisprung-Übergröße und heutiger ZDF-Experte, hat bei Kobayashi festgestellt, dass jener durch den Wegfall des Schuhgewichts mit seinem höheren Körpergewicht und dem entsprechenden BMI-Wert mit 2,45 m deutlich längere Ski als die Gegnerschaft benutzen darf. Das wiederum ergibt eine größere Tragfläche. Und erklärt in Verbindung mit seinen Vorteilen bei Absprung und Tempomitnahme in die Fluglage seine teilweise die Gegner deklassierende Dominanz. Kobayashi sei, so Innauer, sei deshalb eine Art Gegenentwurf zum aktuellen Erscheinungsbild in der Weltspitze.
Im Februar bei den olympischen Wettbewerben kamen seine Qualitäten mit den Rängen 7 und 10 in den Einzelkonkurrenzen und dem 6. Platz im Teamspringen noch nicht so wie heute zum Vorschein.
Seine Bestwerte im Absprung (weil er nicht über den Ballen, sondern über den ganzen Fuß abdrücke?!?) sowie das blitzesschnelle Heranbringen der Ski unter den Körper sind kein Resultat sportwissenschaftlicher Tüfteleien oderComputersimulationen, sondern intuitive Begabung. Sicherlich befördert dadurch, dass er in jüngeren Jahren ganz viel von kleineren Jugendschanzen gehüpft ist. Da sind Absprung und Übergang binnen Hunderstelsekunden in die Vorlage die Grundvoraussetzungen für erfolgreiche Weiten.
Ein Fingerzeig möglicherweise für die Nachwuchsausbildung in den europäischen Springer-Hoclburgen, wo man Talente mit 15/16 über den frühen Einsatz auf größeren Anlagen an die emotionale Weitenjagd heranführt. Später dann, im A-und B-Kader, wird im Windkanal, bei einem halben Dutzend verschiedener Ski (für kalte oder warme Temperaturen, für Aufwind oder Rückenwind, bei kalter und warmer Spur) und ähnlichem Verfahren bei den Springeranzügen ein ausufernder Materialwettstreit betrieben.
Und die Hauptquelle großer Weiten – Absprung, Geschwindigkeitsmitnahme in den Flug – vernachlässigt.
Das aber sind die hervorstechenden Eigenschaften eines Sportlers, von dem Trainer Väätäinen sagt, er sei ein lebenslustiger Artist, der gern performt und den DJ spielt. Einer, der das Fliegen mit einem Lächeln genießt. Und der die große Chance besitzt, 21 Jahre nach Kazuyoshi Funaki den goldenen Adler für den Gesamtsieg wieder ins Land der aufgehenden Sonne zu holen.
Eisenbichler aber wird mit eiserner Entschlossenheit darum bemüht sein, den zweiten Rang gegen den Norweger Stjernen, möglicherweise gegen den Polen Stoch oder den Kollegen Leyhe zu verteidigen.