Verkürzte Historie – Das Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin begeht seinen 200. Jahrestag mit einigen Erinnerungslücken

Das Konzerthaus im Oktober 2016 auf dem Berliner Gendarmenmarkt bei Nacht in Lila. © 2016 Münzenberg Medien, Foto: Stefan Pribnow, Aufnahme: Berlin, 12.10.2016

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Im Jahre 2021 jährt sich die Eröffnung des Konzerthauses Berlin zum 200. Male. Es war am 26. Mai 1821 vom Intendanten Karl von Brühl in Anwesenheit von König Friedrich Wilhelm III. als Komödienhaus eröffnet worden. Am 18. Juni folgte die legendäre Uraufführung der romantischen Oper »Der Freischütz» von Carl Maria von Weber, die später als Nationaloper betrachtet wurde.

Das 1817 abgebrannte Gebäude, errichtet von Carl Gotthard Langhans, wurde von 1818 bis 1821 nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel wieder aufgebaut und es beeindruckte bis zu seiner Zerstörung 1945 als Dominante des Gendarmenmarktes.
Zur Feier des 200. Jubiläums entwickelten der Intendant Sebastian Nordmann und der Chefdirigent Christoph Eschenbach ein auserlesenes Programm, das viele Verlockungen birgt. Höhepunkt wird am 18. Juni eine spektakuläre Aufführung des «Freischütz» unter Leitung Eschenbachs in der Inszenierung der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus sein. Im Geiste des Teufelspakts im »Freischütz» erteilte das Konzerthaus elf Ensemble- und Kompositionsaufträge zu dem »zeitlos menschlich-dämonischen Thema <Der Pakt mit dem Teufel< ». Nach Meinung der Autoren erliegen »wir» individuell und kollektiv seit Menschengedenken der Versuchung, einen Handel mit »dem Bösen» abzuschließen, um im Gegenzug Wissen, Liebe, Macht und irdischen Reichtum zu erlangen. Ökonomische Interessen und Klassenkampf sind anscheinend vor dem Allgemein-Menschlichen bedeutungslos. So kann man jedem Gegner unterstellen, er sei mit dem Teufel im Bunde. Sei es, wie es sei, die beauftragten Künstler werden interessante Deutungen finden, vielleicht sogar materialistische.

Glanzpunkte des Progamms

Weitere Glanzpunkte des Programms sind 13 Konzerte der »Artists in Residence». Anna Prohaska, Sopran, hatte bereits im Eröffnungskonzert am 27. August Arien von Robert Schumann und Igor Strawinsky gesungen. Von 14 »Artists» werden in der Saison zehn mit erlesenen Programmen auftreten, darunter die Pianisten Andras Schiff und Martin Helmchen, die Geigerinnen Vivian Hagner, Julia Fischer und Patricia Kopatschinskaja, der Bratscher Antoine Tamesit, der Organist Cameron Carpenter und der Countertenor Philippe Jarouski.
Einzelheiten des Programms zu beschreiben wäre leichtsinnig, denn angesichts der längst nicht ausgestandenen Corona-Pandemie steht jedes Programm unter dem Vorbehalt besonderer Bedingungen. Zwar haben 65 Chefdirigenten und Generalmusikdirektoren auf die Öffnung der Konzert- und Opernhäuser gedrängt, und im allgemeinen geschieht das in ausgedünnten Sälen. Die Dresdner Philharmonie, die Staatsoper Unter den Linden und die Komische Oper Berlin hatten damit begonnen. Aber mit der Wiedereröffnung der Häuser ist eine enorme Verantwortung sowohl für die Zuschauer als auch für die Künstler verbunden. So werden Provisorien und Programmänderungen unvermeidlich sein. Doch wie man unter ungünstigsten Bedingungen sein Publikum mit lifestream-Konzerten und Open Air erfreuen kann, haben die Musiker des Konzerthausorchesters bereits bewiesen. Selbstverständlich bietet das Konzerthaus im Jubiläumsjahr ein würdiges und anspruchsvolles Programm. Dazu hat es auch die Mittel und kann auf seine guten ökonomischen Ergebnisse zurückgreifen, die es Jahr für Jahr verbessert hat.

Aber was wird eigentlich gefeiert?

Gefeiert wird das Jubiläum der Eröffnung des Schauspielhauses 1821, genau genommen die Inbetriebnahme eines Neubaus des 1871 abgebrannten Nationaltheaters, wiederaufgebaut nach Plänen Karl Friedrich Schinkels. Der Bauherr war König Friedrich Wilhelm III. Abgebrannt und zerstört wurde es erneut 1945 durch Bomben und durch die SS. Aber wer es wiederaufgebaut hat, wer es finanzierte und wer es 1984 offiziell eröffnete, darüber schweigt die Saisonbroschüre 2020/2021, die doch dem Jubiläum gewidmet ist. 1821 gab es die Eröffnung durch den Preußenkönig, eine Inszenierung des neuen preußischen Staates (nach der Zerschlagung durch Napoleon), aber den Wiederaufbau durch die DDR und die Eröffnung durch den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker gab es nicht. Im Heft von 72 Seiten wird die DDR ein einziges Mal erwähnt. Sie habe einen Kraftakt in Sachen Ressourcen vollbracht (S. 34).

Helden

Im Heft gibt es zwei Helden: den »mißverstandenen» Gustaf Gründgens, »führender Theatermann der NS-Zeit», und Sebastian Nordmann, 2009 Begründer der »Ära Nordmann». Nicht erwähnt werden die Wieder-Erbauer des Schauspielhauses als Konzerthaus von 1977 bis 1984: Stadtbaudirektor Erhardt Gißke, Chefarchitekt Manfred Prasser, Oberbauleiter Klaus Just, Maler Siegfried Schütze, Bildhauer Gorch Wenske, Metallbildhauer Achim Kühn – wahre Helden der Arbeit. Hinzu kamen die vielen Künstler und Arbeiter, die nach Justs Worten eine Mannschaft waren, die gemeinsam ein Werk schaffen wollte. EinTeam engagierter Leute ist die selbstverständliche Voraussetzung eines komplexen Bauvorhabens. Doch hier geschah Einmaliges, nämlich die völlige Neuschöpfung des Großen Saales in der klassizistischen Linienführung Schinkels durch Manfred Prasser. Der Saal wurde in die Längsachse gedreht. Schinkels architektonische und graphische Elemente eines kleinen Konzert- und Festsaals entwickelte Prasser zum großen Saal mit zwei Rängen – eine geniale Idee, mit hunderten neugeschaffenen Details. Nicht, dass diese Leistung völlig verschwiegen worden wäre. 2014 ließ Nordmann einen Film drehen: »Schinkel neu komponiert.Vom Schauspielhaus zum Konzerthaus». Das geschah 30 Jahre nach der Wiedereröffnung 1984. Ein Festkonzert gab es nicht, aber einen Film, der die Aufbauleistung und ihre Schöpfer würdigte. Nordmann selbst rühmte die Vorteile des Baus. Doch die Rolle der DDR, ihrer Pläne und ihrer Leistungen wird im Konzerthaus ausgeblendet, als ob man sich dieses Kapitels der Geschichte schämen müsste.

Eigenes Geschichtswerk

Dabei hatte das Konzerthaus in seinem Buch »Apollos Tempel in Berlin», herausgegeben von Berger Bergmann und Gerhard Müller zum 25. Jahrestag, durchaus objektiv berichtet über die Förderung des Wiederaufbaus durch die Kulturabteilung des ZK der SED, den Minister für Kultur, Hans-Joachim Hoffmann, und, nicht zu unterschätzen, den Minister für Bauwesen, Wolfgang Junker, der sich für Prassers Projekt entschied, im Inneren ein klassizistisches Modell, im Unterschied zur Frankfurter Oper, auszuführen. »Schinkel besser als Schinkel», befand der Bauleiter Klaus Just. DDR-Architekten wurden Gestalter einer Schinkel-Renaissance der DDR. Wenn in der Broschüre der Cellist Jürgen Kögel berichtet, wie nötig es war, dem Berliner Sinfonie-Orchester ein Zuhause zu geben, so war dies dank der Arbeit Kurt Sanderlings zwingend geworden. Von Sanderlings Wirken wird nicht mehr berichtet, als dass er das Eröffnungskonzert am 1. Oktober 1984 geleitet hat. Sanderlings Rolle ist auf unerklärliche Weise völlig unterbelichtet. Das Konzerthausorchester aber gäbe es nicht ohne die enorme Aufbauleistung Sanderlings, nachdem durch den Bau der Mauer zwei Drittel der Musiker in Westberlin vom Orchester abgeschnitten worden waren. Sanderling setzte sich gegen die politisch gewollte Auflösung des Orchesters durch. Er fing mit Absolventen der Musikhochschulen neu an und rettete damit das Orchester, das ja eben das Subjekt des Hauses ist. Von Sanderlings Tätigkeit als Chef der Staatskapelle Dresden 1964 bis 1967 wird berichtet, dass er sich um alles gekümmert hat. So war er. Oder: Der Bassklarinettist Norbert Möller berichtet, im Eröffnungskonzert sei die »Sinfonische Widmung» von Ernst Hermann Meyer gespielt worden, »grollend, düster und dissonant». Man wird neugierig. Werke von Meyer wie von anderen DDR-Komponisten sucht man im Programm jedoch vergebens.

Blicke auf die Geschichte

Sich mit der zweihundertjährigen Geschichte des Konzerthauses auseinanderzusetzen, wie Nordmann das will, ist nicht möglich, ohne den Einfluss der DDR und ihrer Kulturpolitik zu beleuchten, zumal die DDR eine völlig andere Gesellschaftsordnung als alle Epochen vor und nach ihr repräsentierte. Das aber wird im Heft streng vermieden. Nordmann schreibt im Pressematerial, Kunst, Zerstörung und Wiederaufbau wären instrumentalisiert worden. Wie das? Wiederaufgebaut wurde das Schauspielhaus in den letzten 50 Jahren nur in der Epoche der DDR. Dies instrumentalisiert? Wofür? Eine ähnliche Vermutung spricht im erwähnten Film Hans-Otto Bräutigam, einst Ständiger Vertreter der BRD in der DDR, aus. Wesentlicher Grund des Wiederaufbaus sei die Absicht der DDR-Führung gewesen, damit die diplomatische Anerkennung der DDR und ihre Aufnahme in die UNO zu betreiben. Zweifellos fördern wirtschaftliche und künstlerische Erfolge das internationale Ansehen eines Landes. Bedeutet das, die Bevölkerung der DDR habe keine eigenen Bedürfnisse für Kunst, Stadtentwicklung und Freizeitgestaltung gehabt? Die DDR war ein Kunst-, Theater- und Leseland. Solches erzählt auch Nordmann im »Schinkelfilm»: »Hierher kommen Abonnenten seit 1984, die sagen: >Herr Nordmann, der Saal ist nicht Schinkel, das ist DDR-Kultur und DDR-Geschichte>». Prasser stellt fest: Die DDR-Hauptstadt hatte genügend Theater, aber keinen Konzertsaal. Wer in der DDR hätte nicht gewollt, das zu ändern? Nordmanns These von der Instrumentalisierung des Wiederaufbaus offenbart eine vereinfachte und tendenziöse Sicht. Natürlich rang die DDR unter dem Zwang der Hallstein-Doktrin um internationale Anerkennung, was von einem großen Teil der DDR-Bürger unterstützt wurde. Leider schimmert auch hier die Doktrin durch, alles, was die DDR oder die SED taten, wäre unlauteren Charakters gewesen. Schon gar nicht wird daran erinnert, welche symbolische Bedeutung der Auftritt des Alexandrow-Ensembles auf den Stufen der Ruine hatte.

Geschichten und Histörchen

Nun könnte man annehmen, die Saisonbroschüre griffe nur einzelne, auf bestimmte Programme bezogene Aspekte der Geschichte heraus und es erschiene zum Jubiläum noch eine umfassende Festschrift, wie das zum Beispiel die Dresdner Philharmonie zu ihrem 150. Jahrestag vor hat. Nein, das ist in der Form nicht vorgesehen, sagt der Marketingdirektor Martin Redlinger auf Nachfrage. Geplant sei eine Publikation »rund um den Gendarmenmarkt», die »mehr illustrativ» online Geschichten und Histörchen erzählen solle. Zur Geschichte hätte das Konzerthaus bereits bekannte Werke herausgegeben. Richtig, der Musikredakteur und der Bibliothekar kennen sie, und wer eine Diplomarbeit schreiben muss, wird darauf stoßen. Aber die Konzertbesucher sind keine Schulklasse, die vor der Prüfung den Stoff wiederholt. Das Heft bleibt also ein Abriss, der dem Abonnenten und dem interessierten Leser die Idee des Programms und seiner Hintergründe nahe bringen soll. Eine Saisonbroschüre ist weder ein Geschichtsbuch noch eine Chronik, aber wer sich darauf einlässt, zum Beispiel zu analysieren, was »Berlin Mitte um 1820 bewegte» (S. 6f.), oder wie sich die Nazizeit in Gustaf Gründgens reflektierte (S. 27f.), kann Motive und Leistung beim Wiederaufbau des Schauspielhauses in der DDR nicht übergehen. Da helfen früher erschienene Werke nicht.

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