Niemand kennt „Sebbe“. Weder seine Mutter, noch die Lehrerin, seine brutalen Mitschüler schon gar nicht. Sie alle sind fast täglich mit „Sebbe“ zusammen, doch niemand ist bei ihm. Jeder der anderen trägt seinen Teil dazu bei, das Leben des Jugendlichen zur Hölle zu machen. Seine Mutter hat ihre eigenen Sorgen. Ihr Gehalt reicht nicht einmal für ordentliche Kleidung, ein Geburtstagsgeschenk für Sebbe sowieso nicht. Dass seine Mitschüler Sebbe quälen, weiß sie nicht, interessiert sie nicht. Helfen könnte sie ihm nicht, wird sie doch selbst einmal bei der Nachtarbeit von den Jugendlichen angegriffen. „Nichts“ sei gewesen, antwortet sie auf das Nachfragen ihres besorgten Sohnes am nächsten Morgen. So wie Sebbe nie von den Schikanen in der Klasse spricht, schweigt auch seine Mutter. Mutter und Sohn haben sich beide daran gewöhnt, ganz unten in der sozialen Hackordnung zu stehen. Einer der Mitschüler, von den Sebbe Tag für Tag misshandelt und erniedrigt wird, ist sein Nachbar Kenny. Begegnen sich die beiden im Hausflur, wechseln sie beiläufig ein paar Worte, als ob nichts wäre. Dass Sebbe das Opfer ist, betrachten alle als selbstverständlich. Wozu noch ein Wort darüber verlieren? Einen muss es ja geben, auf den jeder tritt.
Erschreckend ist an Najafis Film, welchem die Bezeichnung Jugenddrama gerechter wird als Kinderfilm, dass auch der junge Hauptcharakter so empfindet. Mehr noch glaubt Sebbe, selbst dafür verantwortlich zu sein. Die Schuld sucht er bei sich – und findet sie, gerade darin, wofür er am aller wenigsten kann: seiner Existenz. Auf schmerzliche Weise rührt Najafi in seinem berührenden Drama an den Kern von jugendlicher Verzweiflung und Selbsthass. Sebbes Fehler ist es, überhaupt auf der Welt zu sein. Also entschuldigt er sich dafür. Weinend sagt er am Telefon seiner Mutter immer wieder, es tue ihm Leid, dass er ihr Leben zerstört habe, dass er da sei. Kurz darauf geht er in seine Klasse und packt seinen Rucksack aus. Und alle starren entsetzt. Keiner hat es geahnt. Sebbe? Der war immer schon verschlossen. Irgendwie komisch. Manche Kinder rasten eben grundlos aus. Da muss das Fernsehen dran schuld sein oder gewalttätige Computerspiele. Eigentlich heißt „Sebbe“ Sebastian. Dass die anderen ihn mit dem Kurznamen ansprechen, symbolisiert zusätzlich die Geringschätzung welche sie ihm entgegenbringen. Sein richtiger Name steht sinnbildlich für die Identität des Jungen, welche seinen Mitmenschen gleichgültig ist.
Die Opferrolle haftet Sebastian und seiner Mutter wie eine Witterung an. In einer Szene verfolgt Sebbes Mutter ein schwarzer Hund, den sie gefüttert hat. Später sieht man Sebbe, wie er wiederum den Hund hetzt. „Black Dog“ ist im englischen eine Redewendung für Depression und zu Füßen von Dürers „Melancholie“ liegt ein Hund. Sebbe weiß, dass er das Unglück nicht abschütteln kann. Also verfolgt er es. Der vage Hoffnungsschimmer, den Najafi Sebbe am Ende gestattet, ist die einzige Lüge in dem traurig realistischen Film. Von dort, wo Sebbe psychisch angelangt ist, gibt es keine Rückkehr. Nicht in ein anderes Leben kann Sebbes Weg führen, sondern höchstens in den Tod.
Titel: Sebbe
Berlinale Generations
Land/ Jahr: Dänemark 2010
Genre: Jugendfilm
Regie und Drehbuch: Babak Najafi
Darsteller: Sebastian Hiort af Ornäs, Eva Melander, Kenny Wahlbrink, Emil Kadby
Laufzeit: 80 Minuten
Bewertung: ***