Über den persönlichen Zugang: Ich selbst schrieb Ende der 60er Jahre meine Doktorarbeit über die Tumordiagnostik in der Chirurgie. Die Auswertung der Versuche mit Ratten und Mäusen erschien mir schon damals dermaßen subjektiv, willkürlich, von Sichtweisen, Stimmungen und Befindlichkeiten abhängig, so dass ich am eigenen Beispiel den Glauben an die Objektivität und Seriösität der objektiven medizinischen Wissenschaft verloren hatte. Hätte ich die Vorliteratur vor den Versuchen und nicht erst bei der Zusammenstellung der Arbeit gelesen, hätte ich sowieso die Finger davon gelassen. Immerhin bekam ich meinen Doktortitel. Das war ja auch was.
Wenn ich als Student bei manchen Krankheiten wie dem Magengeschwür über die Ursachen nachlas, wurde eine lange Latte von möglichen Ursachen und als letzter Punkt „Neurose“ angeführt. Ich sah im medizinischen Lexikon nach, was das wohl war, und las „abartige Reaktion“, wusste aber nicht, was ich mir darunter vorzustellen hatte. So unbefleckt war ich nach einem medizinischen, naturwissenschaftlichen Studium. Aber schon bei meiner Tätigkeit in der Frauenheilkunde war mir klar, dass manches Problem und manche Krankheit mit der Persönlichkeit und dem Umfeld zu tun hatte. Schon als Assistent in einer Allgemeinpraxis erlebte ich etwa, daß eine herzkranke, lange bettlägerige, von uns Ärzten schon aufgegebene 80 jährige Frau plötzlich wieder gesund war, als ihr Sohn sich mit ihr versöhnt hatte.
Weil ich annahm, dass die Psyche bei Krankheiten wichtig war, ich aber wenig Ahnung davon hatte, ging ich an eine psychotherapeutische Klinik. Beim Kennenlernen dieser medizinischen Disziplin verfestigte sich meine Meinung, dass die Psychologie im Krankheitsbereich ein wesentlich exakterer Bereich als die naturwissenschaftliche Medizin ist, ein Bereich, der ansonsten als vage, unwissenschaftlich und subjektiv angesehen wird. Die naturwissenschaftliche Medizin muss bei der Erklärung vieler Krankheiten passen, hat keine Antworten, redet von essentiell oder idiopathisch wie bei der häufigsten Ursache des hohen Blutdrucks. Aber wenn man die Determinanten von Prägungen in der Kindheit, psychosozialen Beziehungen und Unbewusstem kennt und dessen Gesetze, dann geht es in der Psychotherapie exakt und folgerichtig zu.
Ein mit mir befreundeter Apotheker, der länger als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einer Universitätsklinik gearbeitet hatte, berichtete, sein Professor habe sich Versuchsreihen ausgedacht und auf Kongressen darüber so berichtet, als ob sie stattgefunden hätten, ohne sie je durchgeführt zu haben.
Wenn die Bundesregierung eine Gesetzesänderung plant, stehen als erstes die Industrielobbyisten auf der Matte, um ihren Einfluß gemäß ihren Interessen geltend zu machen. Geld paart sich zu Geld. Beispielsweise wurde schon ab 1992 versucht, eine Positivliste (Präparate mit hohem therapeutischen Nutzen und Bewährungsgrad bei gutem Nutzen- und Kostenverhältnis, nur diese sollten von den Kassen bezahlt werden) einzuführen, die jedoch gegen die Interessen der Pharmaindustrie nicht durchgesetzt werden konnte. Diese besteht in den meisten Ländern der EU. Jedoch soll hier nicht beschrieben werden, wie Politik und Industrie untereinander am Biertisch oder Buffet kungeln, obwohl sicher auf diesem Weg viele Gesetze entstehen, sondern mit welchen Tricks die Industrie direkt Einfluss auf Wissenschaft und Gesundheitswesen nimmt.
Einer der wichtigsten Tricks der Pharmaindustrie ist die ausschließliche Erklärung der Ursachen von Krankheiten in der körperlichen Anlage, den Genen, und der körperlichen Informationsvermittlung. Man könnte auch von Krankheitserfindungen oder einer ideologischen Industrialisierung nach Bruns sprechen.
Junge Mediziner glauben heute oft tatsächlich, dass die Depression eine Transmitterstoffwechselstörung sei. Da hat der medizinische Laie wesentlich mehr Realitätszugang. Nämlich, bei einer Studie, einer Befragung von ein paar tausend Laien nach den Ursachen der Depression, sahen 85 Prozent die Ursache in der Persönlichkeit des Kranken und seinen Umweltbeziehungen, ganz im Gegensatz zur medizinischen Wissenschaft, die die Ursache in einer Transmitterstoffwechselstörung (Transmitter sind Botenstoffe zwischen den Nervenzellen und Erfolgsorganen, eine biochemische Informationsvermittlung) sieht.
Mein Vergleich ist: Wenn zwei ein Telefongespräch führen und der Hörer einen Wut- oder einen depressiven Anfall bekommt, liegt das nicht an der Aussage des Sprechers oder an der Auffassung des Hörers, sondern am Telefondraht oder der Luftübertragung von Muschel zu Ohr. Depressive haben kränkende Auffassungen und unterdrücken oft ihre Wut (Depression stammt aus dem Lateinischen, deprimere = unterdrücken, wie das Wort schon aussagt), um nicht die gute Beziehung zu stören. Richtig ist, wenn ein Kissen zwischen Muschel und Ohr gehalten wird, gibt es keinen Wutanfall. Genau das geschieht bei Antidepressiva. Sie verändern die an sich aussagegerechte biochemische Informationsübertragung, und das wird als organische Störung deklariert.
Ich lernte noch den Begriff der „vegetativen Dystonie“ kennen, heute nicht mehr üblich. Heute spricht man mehr von somatoformen oder Somatisierungs-Störungen. Wenn also ein Mensch unter inneren Spannungen stand, vielleicht aus Angst vor dem Versagen, der Blamage oder etwas falsch zu machen oder seinen Ärger über die erlebten Kränkungen unterdrückte, hieß es, sein Nervenkostüm sei angespannt, dystonisch, und er müsse ein Beruhigungsmittel nehmen, das die Pharmaindustrie noch heute sofort gewinnträchtig zur Verfügung stellt. Die Frage, warum er in Spannungen geriet, über seine Auffassungen und Aussagen, deren Prägungen und Geschichte, stand nicht mehr zur Debatte. Ausserdem verliert der Dystoniker als Nervenbündel seinen Wert und muß weiterhin fleißig schlucken, um nicht negativ aufzufallen. Allein durch diese Form der Diagnose gerät der Kranke unter Rechtfertigungsdruck, der zu seiner Krankheit beiträgt und der Pharmaindustrie vermehrt Gewinne verschafft. Allein die Bezeichnung "vegetative Dystonie" geht also völlig an den eigentlichen Bedürfnissen des Kranken vorbei.
Der nächste verbreitete Psychotrick von Hoffmann La Roche war das Krankheitsbild der „larvierten Depression“, heute auch nicht mehr üblich. Körperliche Störungen wurden als Ausdruck einer latenten Depression aufgefasst und zwar als einer endogenen, also anlagebedingt. Sicher sind körperliche Störungen oft Ausdruck einer Depression, wobei die seelische Komponente verdrängt, nicht wahrgenommen wird oder beides nebeneinander auftritt, aber wohl meist nicht als Folge eines Gendefektes. Die Verbreitung von Depressionen in Familien wurde und wird als Beweis der körperlichen Vererbung gesehen, ungeachtet der Tatsache, daß Weltbilder und Verhaltensweisen über Generationen weiter gegeben werden, was man auch als Erbschaft bezeichnen kann, und somit Depressionen, aber auch andere Krankheiten über die gesamte Krankheitspalette in Familien gehäuft auftreten. Neuerdings ist der Begriff des Sissi-Syndroms populär nach der österreichischen Kaiserin Sissi, wenn Depressive sich in vielfältige Aktivitäten flüchten, um ihre Niedergeschlagenheit, Verzweiflung, Schuldgefühle und Hoffnungslosigkeit nicht zu spüren. Alle erfundenen Krankheiten sind alleine durch die Krankheitsdefinition eine Werbung für entsprechende Pharmaprodukte.
Bei Krankheiten, die ehemals als psychosomatische Krankheiten galten wie das Magengeschwür, werden Bakterien wie der Heliobakter pylori gefunden, die als alleinige Ursache deklariert werden, wobei die anderen Ursachen unter den Tisch fallen, um teure Antibiotika zu verkaufen. Nun ist das sicherlich der harmlosere Weg als aggressive Operationsmethoden wie 2/3-Magenentfernungen, wo die Chirurgen und nicht die Pharmaindustrie die Hauptgewinne davontragen. In der Statistik der Nachfolgeerkrankungen taucht bei geringem Magenrest mangels Magensubstanz das Geschwür natürlich nur noch selten auf, aber andere Nachfolgekrankheiten wie Alkoholismus, seelische und andere körperliche Erkrankungen sind dort nicht erfasst. Ein Mensch, der so sehr seine Aggressionen herunter schluckt, dass sich als Folge ein Loch in die Magenwand frisst, wird ja nicht durch Antibiotika oder Operationen geheilt und muss mit anderen Krankheiten reagieren. Etwa kann der ehemals Magenkranke sich seinen Frust versüssen, an Gewicht zunehmen, unter Hochdruck einen hohen Blutdruck entwickeln, dessen Ursache man naturwissenschaftlich nicht erkennen kann, mit Übergewicht und Bewegungsmangel ein sogenanntes metabolisches Syndrom und Diabetes entwickeln, dann herzinfarktgefährdet sein und Kompensation in Rauchen und Saufen suchen, was er vorher häufig sowieso schon getan hat.
Beim Herzinfarkt sucht man emsig und meinte auch schon das auslösende Bakterium gefunden zu haben, aber offenbar vor den zulassenden Behörden noch nicht so überzeugend, um endlich antibakteriell die Menschheit von dieser Crux zu erlösen. Würde man es finden, hätten Herzkliniken wesentlich weniger zu tun. Also alleine durch die Ursachenerklärung verdienen ganze Industrien viel Geld oder werden arbeitslos, so dass über Krankheitserklärungen ein regelrechter Wettbewerb um die Fleischtöpfe herrschen muß. So könnten bei der Durchsetzung einer Positivliste einige Firmen nur noch in geringem Umfange ihre Arzneien loswerden.
Da man neuerdings das Papillomavirus bei Gebärmutterhalskrebs gefunden und dagegen eine Impfung entwickelt hat, sieht man diesen Virus als Hauptursache an, und Mütter, die ihre Töchter nicht vorbeugend impfen lassen, müssen sich als Verbrecherinnen empfinden. Flächendeckend alle Mädchen impfen zu lassen, was die Kasse auch noch bezahlt, ist natürlich für die Impfindustrie ein astronomischer Gewinn. Inzwischen hat es diese Impfung schon auf Platz 1 der Hitliste aller Impfungen gebracht. Auch operiert die Industrie mit absoluten Zahlen, ca. 60 000 Neuerkrankungen im Jahr, um die Bedrohung heraus zu stellen. In relativen Zahlen sind das aber nur 0,012 Prozent und andere Ursachen fallen unter den Tisch, die die Impfungen in keiner Weise rechtfertigen lassen.
Ein weiterer Trick ist, ein zukünftiges Medikament, von dem man noch nicht weiß, ob es den Sprung auf den Markt schafft, massiv zu bewerben. Wenn es dann im Munde aller ist und sich viele Hoffnungen damit verknüpfen, kann die Zulassungsbehörde kaum noch nein sagen. Ein Sturm der Entrüstung würde sich vor allen in den Selbsthilfegruppen chronischer Krankheiten erheben. Deswegen sind gerade der Zugang und das Sponsoring von Selbsthilfegruppen für die Industrie sehr profitabel. Auch ist es ein Trick, die Grenze zwischen gesund und krank, den Grenzbereich Gesundheit in den der Krankheit zu verschieben, etwa Befindlichkeitsstörungen zu Krankheiten zu erheben, und dadurch neue Märkte zu eröffnen. Dazu gehört auch, leicht erfassbare Werte wie Blutdruck und Cholesterin im Blut möglichst niedrig anzusetzen, leichte Erhöhungen von Idealwerten als krankhaft und behandlungsbedürftig hinzustellen. Beim Blutdruck wird von der Industrie und den beeinflussten Ärzten eine Untergrenze von 90 mmHg und eine Obergrenze von bis zu 140 mmHg definiert, obwohl jeder weiß, daß schon beim Anblick des Arztes, der Weisskittel-Hypertonie, der Blutdruck ansteigt in der gespannten Erwartung, was dabei heraus kommt. Kaum ein Arzt kann sich innerhalb der 5-min-Medizin die Zeit leisten, den potentiellen Patienten erst mal zur Ruhe kommen zu lassen. Aber auch zu Hause bei der privaten Messung ist der Blutdruck oft infolge der gespannten Erwartung leicht erhöht. Beim Cholesterin wird vom Idealwert von unter 200 mg/dl ausgegangen, obwohl kaum ein Mensch im fortgeschrittenen Alter diesen Wert aufweist. Bei einer Normgrenze unter 250 wären wesentlich seltener Medikamente zu verkaufen. Die Pharmaindustrie ist genauso erfinderisch wie die Finanzindustrie, immer neue Produkte und Märkte, bis kein Mensch mehr durchblickt, und das System in Gefahr kommt, finanziell zusammenzubrechen. Um das zu vermeiden, muss gespart werden, aber bitte nicht an den Einnahmen der Industrie, sondern durch Leistungskürzungen und Zuzahlungen für den Patienten.
Die "Anwendungsbeobachtungen" sind immer mehr in die Kritik geraten und sollen sogar ganz verboten werden. Bei ihnen werden Ärzte lukrativ dafür honoriert, dass sie bestimmte Medikamente an ihren Patienten anwenden und ihre Erfahrungen beschreiben. Die Beobachtungen erfolgen meist nicht nach wissenschaftlichen Kriterien und haben mehr das Ziel und den Sinn, das Medikament unter die Patienten zu bringen, bekannt zu machen und so den Umsatz zu steigern. Die finanzielle Verführung für Ärzte ist natürlich groß, dieses Medikament möglichst oft zu verschreiben, unabhängig von den Kosten für die Krankenkassen, häufig auch in Fällen, wo sie etwas anderes verschreiben würden, das für diesen Krankheitsfall angebrachter wäre. Der einzelne Arzt gerät dabei in die Falle von Gewinnstreben und Ethik und Moral.
Etwa, um gewinnträchtige Medikamente wie Ritalin zu verkaufen, werden Krankheiten erfunden. Was früher der Zappelphilipp war, eine zugegebenerweise für alle Seiten lästige Angewohnheit, wird heute zum Krankheitsbild, dem Aufmerksamkeits-Defizit-Hypermotilitäts-Syndrom (ADHS) erhoben, das wissenschaftlich als Gendefekt oder Transmitterstoffwechselstörung geoutet wird. Allein die bandwurmartige Bezeichnung hebt den Krankheitscharakter hervor und beunruhigt die Eltern. Sie müssen schon ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn sie ihre Kinder nicht mit den Aufputschmitteln, die paradoxerweise beruhigend wirken, fast ein Diagnostikum, zu braven, ruhigen, aufmerksamen Schülern machen. Interessanterweise nennt allein die Bezeichnung schon die Gründe. An den Kindern wird das festgemacht, was an gelassener, anerkennender Aufmerksamkeit den Eltern fehlt. Gerade durch diesen Mangel suchen sie aufgeregt die Ruhe und Aufmerksamkeit – ein Teufelskreislauf. Aber das als schwerwiegendes Krankheitsbild zu bezeichnen – es gibt halt ruhige und aufmerksame und weniger ruhige und unaufmerksame Kinder, gute und schlechtere Schüler – kann nur den Köpfen von Interessensvertretern entspringen.
Ärzte als Verschreibende nicht nur mit Anzeigen, kleinen Assessoirs wie Kugelschreibern und anderen kleinen Schnickschnacks, mit Pharmavertretern und Probepackungen, Einladungen zu Kongressen und Schiffsreisen, als kleiner Dank für Studien, zu umwerben, sind alte Hüte. Schon vor 40 Jahren dachte ich mir oftmals, wenn nur eine von den vielen Probepackungen erneut geordert wird, haben sich all diese wegen der wohl geringen Herstellungskosten rentiert. Die Zeitschrift „Stern“ prangerte vor einiger Zeit den Konzern „ratiopharm“ an, neben anderen unlauteren Praktiken auch die Ärzte für von ihrer Firma verschriebene Medikamente zu honorieren. Allein dieser Artikel minderte den Absatz von ratiopharm erheblich, bis wieder Schnee darüber gewachsen ist,
Da das Gesundheitswesen streng hierarchisch organisiert ist, Ärzte in ihrem Ausbildungssystem autoritätshörig erzogen sind, ist es für die Pharmaindustrie wichtig, anerkannte Professoren als Vorreiter für Studien zu gewinnen. Bezahlung und Bestechung, sogar von Behörden, sind dabei allgemein üblich. Brigitta von Lehn schreibt entsprechendes am 8.Januar 09 in der Frankfurter Rundschau in dem Artikel „Die Tricks der Pillendreher – Ein ehemaliger Pharmamanager verrät mehr über die Branche als ihr lieb ist – zum Beispiel, warum Krankheiten erfunden, aber nicht geheilt werden“ über das Buch eines Insiders, eines erfolgreichen, weil umsatzsteigernden Pharmamanagers, John Virapen „Nebenwirkung Tod“ (Mazaruni Publishing). Für Virapen besitzt „Marketing einen zentralen Stellenwert. Es beinhaltet die ganze Spanne; angefangen mit teurem Nippes für Ärzte, Reisen für Meinungsführer, über Geld für gekaufte Artikel in wissenschaftlichen Fachzeitschriften, die Vorbereitung und Durchführung von wissenschaftlichen Fachkongressen bis hin zu Bordellbesuchen für besonders pflegebedürftige Manager. Und schließlich gehörte auch Bestechung von Behörden zu meinem traurigen Repertoir“. Bordellbesuche gehören halt nicht nur bei VW zum Geschäft.
Medikamente zu finden, die Krankheiten heilen, sind logischerweise nicht im Interesse der Industrie. Sie sollen Symptome bessern, aber nicht heilen, damit die Kranken möglichst lebenslang am Tropf der Pharmaindustrie hängen, etwa Antirheumatika gegen Schmerzen, Insulin bei Diabetikern oder Psychopharmaka gegen psychische Störungen. Man könnte dasselbe auch den Ärzten unterstellen, denn auch sie leben von der Krankheit und weniger von der Gesundheit. Aber sie sind wesentlich näher am Kranken, durch den unmittelbaren Kontakt leiden sie mehr mit ihm und freuen sich eher über seine Genesung als eine krankenferne Industrie, in der hauptsächlich das Marketing und die Industriemechanismen der Profitmaximierung gelten. Außerdem beinhaltet die ärztliche Tätigkeit auch die Vorsorge. Aber etwa Bewegungsprogramme für Diabetiker anzubieten, um den Zuckerverbrauch zu erhöhen und den Insulinbedarf zu verringern, was bei Altersdiabetes oft gut klappt, ist nicht im Interesse der Industrie und seltenen Ärzteinitiativen überlassen. Für die Ärzte findet eine immerwährende Produktion von Krankheit statt, so dass sie immer genügend zu tun haben. Die Industrie folgt aber den Gesetzen des freien Marktes, das heißt eine Erweiterung der Produktion, Eröffnung von neuen Märkten mit all den beschriebenen Folgeerscheinungen.
Virapen selbst wandte sich angeekelt von diesen Methoden ab und ihn peinigten Schuldgefühle. „Mein Job war es, die Obergockel bei Laune zu halten. Schließlich ging es um gezielte Desinformation. Das Fälschen von Informationen. Fehlinformation in Fachblättern. Todesfälle werden kaschiert. Vertuschungen seien gängige Praxis“. In den 50er Jahren führte schon die Vertuschung von Fehlbildungen beim Schlafmittel „Contergan“ zu einem Skandal und noch heute zu vielen sichtbaren Krüppeln. Gewinnstreben kann skrupellos machen.
Jedoch, die Interessen der Industrie, jegliche Krankheiten als anlagebedingt, Gendefekt oder angeborene Überleitungsstörungen zu erklären, um möglichst lebenslang ihre Produkte zu verkaufen, kommt auch Interessen von Patienten entgegen. Krankheit, vor allem chronische, psychische und psychosomatische, ist von Schuld und einem Rechtfertigungs- oder Legitimationsdruck begleitet. Das ist das Charakteristikum und Wesen von Krankheit. Wenn etwas schief läuft, an dem viele ursächlich beteiligt sind, ist gesellschaftlicher und kultureller Kontext, die Schuld an einem oder einer Gruppe fest zu machen. Dieser wird stigmatisiert. Diese Schuld wird oft verschoben, auf die anderen, die Umstände – es sind ja auch oft die Umstände, die Prägungen im Elternhaus, das sich niemand aussuchen kann, die gesellschaftlichen Umstände wie die Struktur des Gesundheitswesens, der Leistungsdruck am Arbeitsplatz -, die Gesellschaft. Diese Schuldzuweisung führt zu massiven zwischenmenschlichen Konflikten. Bei einem Gendefekt sind alle aus dem Schneider, keiner ist schuld. Die medizinische Naturwissenschaft, die Pharmaindustrie und die Medizintechnik sind die Erlöser von der Schuld. Das erklärt auch einen Teil ihrer Erfolge. Nur, diese Situation trägt den Realitäten wenig Rechnung, und das Gesundheitswesen hängt am Tropf der Gewinnmaximierung.
Neuerdings am 17.12.09 schreibt Annika Joeres in einem kurzen Artikel in der Frankfurter Rundschau "Wirbel um Sawicki, Pharmakritiker muß um Posten fürchten", dass der Leiter des Kölner Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) – ja, so etwas gibt es auch noch! – unter der schwarz-gelben Regierung möglicherweise seinen Hut nehmen muß. Das Institut, noch 2004 gegründet unter der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, analysiert und wertet internationale Studien aus, untersucht, ob neuere und teurere Arzneien älteren und billigeren oder der Zuckerpille, dem Placebo, überlegen sind, maßgebend für die Erstattung von Medikamenten und Therapien.
Beispielsweise wurden das Antidepressivum Rebotexin als unwirksam entlarvt oder Insulin-Analoga für Diabetiker aus dem Leistungskatalog gestrichen. Darüber hinaus macht der Internist Peter Sawicki noch die Machenschaften der Milliardenindustrie publik. "Manche Hersteller verdrehen Tatsachen, bestechen Wissenschaftler, kaufen Zeitungsartikel und verschweigen unliebsame Ergebnisse von Experimenten. Ich kämpfe für das Vertrauen von Patienten in die Pharmaindustrie, das sie in den vergangenen Jahrzehnten verspielt hat." Insofern gilt Sawicki als Schreck der Pharmaindustrie. Im Gerangel um Sawicki fürchten manche den Eindruck, daß er unter dem Druck der Industrie abberufen wird. Am 18.12.09 schreibt Brigitta von Lehn unter dem Titel "Geschönte Ergebnisse, Pharmafirmen halten negative Studien zurück/ Experten fordern Regeln" ausführlicher ähnliches und, dass ein Gesetz wie in der USA gefordert wird, Registrierung und Veröffentlichung zur Pflicht zu machen.
Auffallend ist, daß vor allem in den öffentlich rechtlichen Fernsehanstalten fast nur noch mit Arzneien, weniger mit der vorher üblichen Werbepalette geworben wird. Ist diese Tatsache ein Gradmesser dafür, dass so viele Fernsehzuschauer Gebrechen haben, sodass sich diese Investitionen lohnen, etwa durch vermehrte Krankheiten im Zuge der Wirtschaftskrise, des Druckes am Arbeitsplatz und als Folge der Prosperierung der Pharmaindustrie bei gleichzeitigen mangelnden Geldern anderer Wirtschaftszweige?
Am Ende dieser Serie fällt mir auf, daß ich wenig über die Tricks der Medizintechnikindustrie geschrieben habe. Dazu habe ich auch weniger Zugang. Trotzdem ist auffallend, welche horrende Kosten durch Operationen und Röndgenuntersuchungen, vor allem dem MRT bzw. der Kernspintomographie anfallen. Im MRT können Gewebe wesentlich genauer dargestellt werden als im normalen Röntgenbild oder der einfachen Tomographie. Schließlich wollen jeder Arzt und Patient genauer wissen, was los ist, obwohl dies in vielen Fällen für die Therapie völlig unerheblich und demzufolge die Untersuchungen überflüssig sind. An diesem genauen Wissen werden im Sinne der Profitorientierung Milliarden verdient.