Traurigkeit und Poesie – Bewegendes Regie-Debüt von Egil Pálsson mit „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ in der Schaubühne

„Meine Herrschaften“, sagt Thomas Bading, während er in Richtung Publikum schaut, so als wolle er sich der Öffentlichkeit präsentieren. Dabei ist er gar nicht imstande, andere Menschen auch nur wahrzunehmen. Tatsächlich richtet er das Wort an sich selbst, diskutiert mit vier unterschiedlichen Erscheinungsformen seines Ich.

Der isländische Regisseur Egil Pálsson hat den Autor in Dostojewskijs Erzählung „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ mit vier Schauspielern und einer Schauspielerin besetzt und damit das Ausmaß des hoffnungslos in sich selbst Eingeschlossenseins auf besonders schmerzhafte Weise deutlich gemacht.

Als zentrale Figur agiert Thomas Bading. Er gestaltet den aufsässigen Menschen, der sich für klüger hält als alle Anderen, der seine Erniedrigung genießt, Rachegelüste pflegt, der nichts Gegebenes, schon gar nicht die Naturgesetze, widerspruchslos hinzunehmen bereit ist, zugleich als einen Tieftraurigen, voller Sehnsucht nach Zuwendung und menschlicher Wärme.

Seine vier anderen Ichs verkörpern außerdem einige Gestalten aus der Vergangenheit. Der Autor der Aufzeichnungen quält sich mit Erinnerungen an unrühmliche Begegnungen mit diesen Gestalten, obwohl er schon damals nicht Anderen, sondern immer nur sich selbst begegnet ist .Er ist der schneidige Offizier (Thomas Wodianka), der grobschlächtige Kumpel (Urs Jucker), der spitzzüngige Sophist (Ulrich Hoppe) und der aufrechte junge Mann (Lea Draeger).

Der Autor, der sich immer übersehen und durch Missachtung gedemütigt fühlte, hat gewaltsam versucht, aus seiner Einsamkeit auszubrechen. Er hat sich Kameraden aus der Schulzeit, mit denen er sich schon als Junge nicht verstand, aufgedrängt, hat sie provoziert in der vergeblichen Hoffnung auf einen Austausch mit ihnen, den er selbst nicht leisten konnte.

Was dieser Mann erzählt, ist lächerliches Geschwätz, die Gemeinheiten, derer er sich bezichtigt, sind Albernheiten, allenfalls peinlich. Aber dieser Mensch, der von niemandem geliebt oder gebraucht wird, muss sein belangloses Dasein aufwerten, sich selbst als rebellisch, gemein und böse darstellen, um seiner Nichtexistenz Konturen zu verleihen.

Auch das Abenteuer mit der jungen Prostituierten Lisa ist keine wirkliche Begegnung, nur ein weiterer, ergebnisloser Versuch des Autors, aus seiner Einsamkeit auszubrechen. Lisa wird dargestellt von Lea Draeger, die das jungendliche Ich des Autors verkörpert. Sich selbst macht daher der Autor Hoffnung, wenn er verspricht, Lisa bei sich aufzunehmen und sich selbst versperrt er den Weg aus dem Eingeschlossensein, als er Lisa wegschickt.

Magda Willis Bühne ist eine weiße Plattform, auf die ab und zu ein paar Stühle gestellt werden, mit denen auch der von außen herein dringende Lärm produziert wird, unter dem der Autor leidet.

Die Kostüme, ebenfalls von Magda Willi, sind einheitlich dunkle Hosen und weiße Hemden, für Thomas Bading dazu eine ärmellose grüne Strickjacke, für Lea Draeger ein roter Pullunder, und in einigen Szenen werden Pelze getragen.

Die Musik von Kristin Björk Kristjánsdóttir, schwermütige kleine Stücke und schmerzvolle, dissonante Töne, interpretieren die SchauspielerInnen auf vier Akkordeons, die, wie Brustpanzer getragen, auch zum Kampf eingesetzt werden.

Die Schönheit der sparsamen Ausstattung, auf die am Ende Schneeflocken fallen, ist eine wundervolle, unaufdringliche Ergänzung zu der poetischen Sprache, hervorragend ausgeleuchtet von dem fünfköpfigen Schauspielensemble, die im Zentrum von Pálssons Inszenierung steht.

Die von Egil Pálsson und Friederike Heller erstellte Textfassung, die nur einen kleinen Teil von Dostojewskijs Erzählung beinhaltet, ist ein hervorragendes bühnengerechtes Konzentrat des Originals.

Egil Pálssons Inszenierung erzählt eine Geschichte aus dem Petersburg vor mehr als 120 Jahren und ebenso aus dem heutigen Berlin.

2 + 2 = 4 schreibt Thomas Bading zu Beginn auf die Spielfläche. Am Ende macht Lea Draeger eine fünf aus der vier, und so, wie es tut, ist das auch eine Hoffnung.

„Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“, von Fjodor Dostojewskij, in der Fassung von Egil Pálsson und Friederike Heller, hatte am 15.12. Premiere im Studio der Schaubühne. Weitere Vorstellungen: 04., 05., 25. und 26.01.2010.

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