Es galt, Elfriede Jelineks neuestes Werk, „Die Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie“, durchzuackern, 99 Seiten, eine nach der anderen, und die Hoffnung, bei guter Führung ein paar Seiten erlassen zu bekommen, erwies sich als trügerisch.
Vorn links auf der Bühne steht ein Kasten, dessen Display die Zahl der noch zu bewältigenden Seiten anzeigt. Erst als dort eine Null erscheint, ist die Performance zu Ende.
Eingesperrt wird jedoch niemand. Die Türen des Zuschauerraums bleiben offen, und Regisseur Nicolas Stemann erlaubt dem Publikum ausdrücklich, während der Veranstaltung nach Belieben hinauszugehen und gegebenenfalls wieder zurückzukommen. Die Texte werden per Lautsprecher ins Foyer übertragen. Dort steht auch ein Monitor, auf dem das Bühnengeschehen verfolgt werden kann.
Als ich mich, ungefähr zur Halbzeit, ins Foyer begebe, kann ich unter den Menschen, die sich dort aufhalten, keinen entdecken, der dem Monitor Aufmerksamkeit schenkt. Auch auf die Lautsprecher scheint niemand zu achten. Eine kleine Auszeit ist durchaus vertretbar. Das Stück hat keine durchgehende Handlung, bei der etwas versäumt werden könnte. Eigentlich wäre es kein Verlust, das ganze Stück zu versäumen.
Die Inszenierung ist jedoch amüsant, und auf der Bühne agieren, tanzen und singen exzellente Schauspielerinnen und Schauspieler. Mitten unter ihnen ist Nicolas Stemann, der auch seine Fähigkeiten als Musiker und Sänger unter Beweis stellt. Ein professioneller Sprecher ist er nicht, aber ein guter Moderator, der den Kontakt zum Publikum hält und, indem er ironisch das Stück und die gesamte Produktion in Frage stellt, jede mögliche Kritik vorwegnimmt.
Elfriede Jelinek hat das Stück schon vor dem Finanzcrash geschrieben aufgrund eines österreichischen Bankenskandals und hat es seither mehrfach aktualisiert. Trotzdem wirkt es etwas überholt, denn es ist die satirische Verarbeitung der Medienberichte und Fernsehtalkshows, die unmittelbar nach der Lehman-Pleite allüberall zu hören, zu sehen und zu lesen waren.
Eigens für das aktuelle Theatertreffen hat die unermüdlich produzierende Jelinek dazu noch etliche Textseiten verfasst, die eine Abhandlung über die gnadenlosen Auswirkungen von Konkurrenz im Allgemeinen beinhalten.
In wieweit Elfriede Jelinek sich selbst als Schriftstellerin für wichtig hält und ob sie ihre wenig geistreichen Wortwitze, die sie selbst als Kalauer bezeichnet, vielleicht doch ziemlich genial findet, darüber lässt sich nur spekulieren. Gut im Geschäft ist die Nobelpreisträgerin immer noch, aber ob es irgendjemanden gibt, der diese hemmungslose Textausschüttungsmaschine wirklich ernst nimmt, darf bezweifelt werden.
In Stemanns Inszenierung ist auf einem Video eine Schauspielerin mit Jelinek-Perücke zu sehen, die von einem Wolf angefallen wird, der ihr genüsslich den Hals durchbeißt. Elfriede Jelinek selbst erscheint in einer Filmeinspielung. Während sie spricht, verstellt das Ensemble mit einer Spielszene den Blick auf sie, und dann wird die Dichterin mitten im Satz ausgeblendet.
Die SchauspielerInnen lesen ihre Texte häufig ab, was sie vermutlich nicht nötig hätten. Es geht hierbei wohl allem darum, die gelesenen Textseiten auf die Bühne zu werfen, auf der so die Papierfluten erkennbar werden, auf denen das Stück basiert.
Nicolas Stemann reicht sein Manuskript irgendwann in den Zuschauerraum hinunter und lässt das Publikum ein paar Seiten lesen. Die ZuschauerInnen werden auch zum gemeinsamen Singen herangezogen, und anlässlich eines Zaubertricks wird ihnen Geld abverlangt. Den von einem Zuschauerraum gespendeten 20 Euroschein verbrennen die Schauspieler, vielleicht als Hinweis auf den Umgang des Theaters mit Subventionen.
Die Bühne ist zeitweilig von blutgierigen Wölfen beherrscht. Dann wieder übernimmt die Spaßgesellschaft, in Gestalt vieler Guido Westerwelles, das Regiment. Riesige Luftballons schweben durch den Raum, und eine Spielzeugeisenbahn überfährt Menschen, die ihre Köpfe auf die Schienen gelegt haben.
Während der Vorstellung laufen an den Seitenwänden auch Bilder der anderen Inszenierungen vorbei, die bei diesem Theatertreffen zu sehen waren, das mit der Produktion des Thalia Theaters, Hamburg in Koproduktion mit dem Schauspiel Köln in ausgelassener Stimmung zu Ende ging. Es gab großen Beifall und Standing Ovations, wohl nicht nur für diese Vorstellung, sondern als Dank an das gesamte Theatertreffen.
Mir hat das diesjährige Festival sehr gefallen, und die Inszenierungen, die ich weniger mochte, boten mir die Möglichkeit, mich mit meinen Grenzen auseinanderzusetzen.
Die Wirtschaftskrise war das Thema, das die Jury bei der Auswahl der zehn bemerkenswerten Inszenierungen vor allem berücksichtigt hatte. Darüber hinaus gab es Einblicke in eine kommunikative Theaterwelt, wie sie in den Koproduktionen zum Ausdruck kam, durch die nationale und auch sprachliche Grenzen überwunden wurden. Hier sind die Anfänge einer bereichernden internationalen Zusammenarbeit und eines interkulturellen Austauschs erkennbar wie sie der französische Kulturminister Jack Lang in seiner Eröffnungsrede zum diesjährigen Theatertreffen gefordert hatte.
Während die Gegenwartsdramatik in den zehn Inszenierungen dominierte, wurde die Dramatik der Zukunft beim Stückemarkt vorgestellt und mit Preisen ausgezeichnet.
Claudia Grehn erhielt den Förderpreis für neue Dramatik, verbunden mit der Uraufführung ihres Stücks „Ernte“ im Maxim Gorki Theater, Berlin. Den Werkauftrag für ein neues Stück, das am Nationaltheater Weimar uraufgeführt wird, bekam Wolfram Lotz, und Deutschland Radio Kultur wählte das Stück „Alles Ausschalten“ von Julian van Daal für die Realisation als Hörspiel.
Im Rahmen des tt wurde Margit Bendokat für ihre herausragenden Verdienste um das deutsche Theater mit dem Theaterpreis Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung geehrt.
Den Alfred-Kerr-Darstellerpreis erhielt Paul Herwig für seine schauspielerische Leistung als Johannes Pinneberg in „Kleiner Mann – was nun?“ Juror war der Schauspieler Bruno Ganz.
Zusammen mit seiner Bühnenpartnerin Annette Paulmann bekam Paul Herwig außerdem den 3sat-Preis verliehen.
Der „Preiskampf“ wurde zum zweiten Mal live ausgestrahlt, in diesem Jahr mit Tita von Hardenberg als Ringrichterin. Die hatte zwar nichts zu schlichten, denn die Diskussionen der Jury verliefen engagiert aber friedlich. Tita von Hardenberg sorgte jedoch für das richtige Timing und die Aufrechterhaltung der Spannung bis zum Schluss.
Der Vorschlag, Annette Paulmann und Paul Herwig auszuzeichnen, kam von der Autorin Juli Zeh. Die anderen für den Preis vorgeschlagenen Kadidaten waren: Das Schauspielensemble bei der Produktion „Die Kontrakte des Kaufmann“, der ungarische Regisseur Victor Bodó und der Schauspieler Markus John für seine Darstellung des Norbert in „Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen“.
Das Theatertreffen 2010 bot vom 07. bis 24.05. mehr als 60 Veranstaltungen, für die rund 20 000 Karten verkauft wurden.
Es hat Spaß gemacht, dabei zu sein. Die durch den Umbau bedingten aufgeschütteten Steine und Holzbretter auf dem Fußboden im Foyer verliehen dem Haus der Berliner Festspiele etwas improvisiert Abenteuerliches, und die wie immer hervorragende Organisation bewirkte, dass die meisten Besucherinnen und Besucher sich hier erkennbar wohlfühlten.