Tektonik im Frauenfußball verschiebt sich – Pokalsensation zwischen SGS Essen und Turbine Potsdam

Torjubel bei Potsdam: Genoveva Anoma mit Lisa Evans (21) und Pauline Bremer (31), daneben knieend Irini Ioannidou (11) und Ina Mester (21) beide SGS.

Märkische Regel

Die letzten beiden Jahre waren die Ruhrpott-Ladys in aller Regelmäßigkeit in der zweiten Hauptrunde auswärts im märkischen Potsdam aus dem Pokal geworfen worden. Anno 2012 Anfang Oktober fegte Turbine Potsdam Essen mit 5:3 (2:1) vom Platz, im Jahr zuvor nach der WM 2011 im September gewann der mehrfache Pokalsieger ebenso in der zweiten Hauptrunde mit 5:0 (2:0). Besonders bitter für die sich noch damalig nennende SGS Essen-Schönebeck war die knappe 1:0 (0:0) Viertelfinale-Niederlage im Potsdamer Karl-Liebknecht-Stadion, als bedingt durch den DFB und seiner zeitlich pompös durchgezogenen WM-Vorbereitung das Viertelfinale in Saison 2010/2011 erst Ende Januar ausgespielt werden konnte.

Standardgegner

Vielleicht lag es heuer an der zeitgemäßeren Namenskürzung zur SGS Essen ohne Nennung des Ortsteils Schönebeck, denn Fußball Fortuna sprach in der aktuellen zweiten Runde erstmalig den aufstrebenden Ruhrpott-Ladys das günstige Heimrecht zu. Unter den Fittichen von Cheftrainer Markus Högner formierte sich eines der jüngsten Teams in der Frauenbundesliga zu einer Erfolgsnummer. Im vierten Anlauf gelang den Ruhrpottfrauen gegen ihren preußischen Schicksalsgegner endlich ein 3:2 (0:0) Pokalsieg. Nach acht Jahren schaffte Turbine es zum ersten Mal nicht weiter ins Achtelfinale. Für die zahlreich mitgereisten Fans aus der Mark Brandenburg war dies eine extrem schmerzhafte Niederlage, andererseits war das Pokal-Aus ein gewiss notwendiger Denkzettel gegen eine allzu groß und manchmal anmaßend gewordene Erwartungshaltung, die letztlich dem gesamten Verein und seiner Elite-Mannschaft nicht immer von Vorteil gereichte. Ein Umstand, der manche Spielerin in der Vergangenheit zum Wechseln in andere Gefilde veranlasste.

Verschiebung

Torjubel bei Potsdam: Genoveva Anoma mit Lisa Evans (21) und Pauline Bremer (31), daneben knieend Irini Ioannidou (11) und Ina Mester (21) beide SGS. Übrigens eine Beobachtung und Feststellung, die Cheftrainer Bernd Schröder in aller Regelmäßigkeit in Pressegesprächen ansprach, wenn er Turbine Fans zur Mäßigung angemahnt hatte. Das frühe Potsdamer Pokalaus passt wie ein Mosaikstein in das Flächenbild der sportlichen Entwicklung der Liga. Der deutsche Frauenfußball entwickelt sich langsam mit einer spürbar tektonischen Verschiebung  zwischen Champions League Niveau und dem Rest der Liga  hin zu einem immer mehr ausgewogenen Wettbewerb und Spielbetrieb. Die Kader der Bundesligisten sind voll mit talentierten Spielerinnen der Jahrgänge ´94 bis ´97. Ein weiteres Indiz einer Veränderung ist die Tatsache, dass nach erst zwei Spieltagen in der Meisterschaft kein Bundesligist mehr verlustpunktfrei ist. Somit lag der Fehltritt der Potsdamerinnen mehr oder weniger in der Luft. Diesmal erwischte es Turbine, im kommenden Achtelfinale werden die Pokalduelle ähnlich turbulent abgehen, ein nächstes Spitzenteam wird der spielerisch positiv zu verzeichnenden Gemengenlage ähnlichen Tribut zahlen müssen. Teams wie Essen, Freiburg und auch Jena profitieren von leistungsstarken Juniorinnen – die Fußballbegeisterung der Mädchen in Deutschland  ist ungebrochen.

Windeseile

Spielgestalterin Charline Hartmann (SGS) im Zweikampf mit Maren Mjelde (Turbine). Die cleveren, spielfreudigen Essener Youngster nahmen den erfolgsverwöhnten Potsdamerinnen in der abschließenden Viertelstunde das Spiel ziemlich flashig aus der Hand. Sie machten in Windeseile selbst eine etwaige Verlängerung zu nichte. Essen lieferte einen echten Pokalfight. Zu Anfangs diktierten die Turbinen das Spiel – der Traum vom Weiterkommen der SGS schien zu platzen. Doch Potsdam konnte in der ersten Hälfte seine Überlegenheit trotz guter Chancen durch Johanna Elsig (9.), Ada Hegerberg (10., 24., 45.), die afrikanische Weltfußballerin Genoveva Anonma (15., 23., 25., 41.) und der  schweizerischen  Nationalspielerin Lia Wälti (17.) nicht in zählbare Erfolge umwandeln. Spektakulär entschärfte Essens Torfrau Lisa Weiß einen 25-Meter-Freistoß von Potsdams Stürmerin Anonma. Mit der quirligen Afrikanerin bekam Essens Defensive viel zu tun.  Zwei mal musste Lisa Weiß retten, ehe sie Genoveva Anonma nach einem Fehler der 16-jährigen Lena Ostermeier allein auf sich zusteuern sah. Aber die energische Ostermeier bügelte ihren Patzer selbst aus.

Versöhnlich

Torfrau Lisa Weiß (SGS) - der zuverlässige Ruhepol. Die zuverlässige Ex-Nationalspielerin und Torfrau der Essenerinnen hatte maßgeblichen Anteil daran, dass das Pokalduell mit einem durchaus versöhnlichen 0:0 in die Pause ging. Nach Wiederanpfiff waren es prompt wieder die Potsdamerinnen, die Druck machten. Nach einer Fehlerkette schossen sich Irini Ioannidou und Vanessa Martini ziemlich hilflos gegenseitig an, Potsdams Torjägerin Anonma schnappte sich den Abpraller und ließ mit einem ansatzlosen Drehschuss Lisa Weiß keine Chance. Nach 48 Minuten lagen die Favoritinnen aus Brandenburg mit 1:0 in Führung. Potsdams Sturm zauberte jetzt wie im Märchen – die SGS Essen hatte das Glück in dieser Spielphase, dass Anonma und Hegerberg  nur die Pfosten trafen. Eine Viertelstunde später in der 67. Minute erhöhte die norwegische Nationalspielerin Ada Hegerberg mit einem platzierten Schuss gar auf 2:0 für Turbine Potsdam. Das Spiel schien für die Essenerinnen gelaufen. Als auf den Rängen niemand mehr an ein Wunder glaubte, ging plötzlich ein unversöhnlicher, kollektiver Ruck durch das Essener Team. Leidenschaft mit effizienter Torverwertung war die spielerische Antwort auf Potsdams jetzt zunehmenden erheblichen Konzentrationsmängel, zu sicher war sich Turbine.

Hoffnung

Sarah Doorsoun-Khajeh (SGS) im Zweikampf mit Genoveva Anonma (Turbine). "Symptomatisch war die Körpersprache von Charline Hartmann", lobte Cheftrainer Markus Högner seine fähige Spielgestalterin. "An ihr haben sich die anderen wieder hochgezogen."  Mit ihren 27 Jahren ist Charline Hartmann die Älteste im Team – eine erfahrene Leitfigur, die vorweggeht. Sie machte in dem Pokalspiel einen klasse Job: Sie peitschte ihre Mitspielerinnen nicht nur immer wieder nach vorne. Hoffnung kam auf, als Charline Hartmann  in der 76. Spielminute nach einem Superpass von Linda Dallmamnn aus acht Metern kompromisslos halblinks ins lange rechte Eck zum 1:2 Anschlusstreffer einschob. Drei  Minuten später zog die ballsichere 19-jährige Linda Dallmann aus knapp 20 Metern ab. Die verdutzte Turbine-Keeperin Ann-Katrin Berger griff nicht zu, das Leder landete zur Freude der Ruhrpott-Ladys und ihrer Fans im Netz  zum 2:2, das bedeutete den überraschenden Ausgleich (79.). Effektiver konnte der Sieg nicht errungen werden. Zehn Minuten vor Ende der Partie war wieder alles offen.

Getöse des Augenblicks

Torjubel: Torschützin Sarah Doorsoun-Khajeh umarmt von Charline Hartmann (13),  beide SGS, daneben die geschlagene Turbine-Torfrau Ann-Katrin Berger. Die Sensation für eine Verlängerung lag nun in der Luft, kein Essener Fan dachte zu diesem Zeitpunkt an einen Sieg in regulärer Spielzeit. Lautstark hatten Potsdams Fans im Getöse des Augenblicks noch einmal die akustische Übermacht übernommen. Alles war offen. In der 88. Minute war es wiederum Potsdams Torfrau Ann-Katrin Berger, der eine spielentscheidende Rolle in der Partie zu fiel. Berger bekam eine Flanke von Rechtsaußen Sarah Freutel nicht energisch genug zu fassen, der Ball fiel ausgerechnet der Ex-Potsdamerin Sara Doorsoun-Khajeh, die noch letztes Jahr das Trikot der Brandenburgerinnen trug, vor die Füße. Aus der geschenkten Chance schob sie den Ball zum 3:2 Erfolg für die Gastgeberinnen über die weißmarkierte Torlinie. Alle Auswechselspielerinnen standen zusammengeballt in der Coaching-Zone von Markus Högner und sehnten den Abpfiff herbei. Als der Pfiff ertönte, gab es kein Halten mehr. Ein strahlender Vereinschef Willi Wißling dankte jeder Einzelnen seiner wahrhaft grandios kämpfenden Ruhrpott-Ladys.

Verstohlener Blick

Tabea Kemme (Turbine) im Zweikampf, li. hinten: Sara Doorsoun-Khajeh (SGS), re. Johanna Elsig (Turbine). "So ein Ding muss man nach Hause fahren. Wir waren klar überlegen. Die Mannschaft hatte das Spiel schon abgehakt und war am Ende nicht mehr konzentriert", erklärte der enttäuschte Turbine-Coach Bernd Schröder zum  frühzeitigen Pokal-Aus seiner Mannschaft. "Wir haben irgendwann aufgehört, vorne ranzugehen. Das hat uns das Genick gebrochen", ergänzte die leicht geknickte Ann-Katrin Berger. Für Potsdam bedeutet diese Niederlage einen echten Warnschuss für die kommenden englischen Wochen. Eine leicht verlegen, aber glücklich und selbstbewußt wirkende Torschützin Sarah Doorsoun-Khajeh wußte in diesen emotionalen Minuten nicht so Recht wie ihr geschah:  mit ihrem Siegestor schoss die im Rheinland aufgewachsene Ballkünstlerin ihre ehemaligen Mannschaftskolleginnen aus dem Eliteverein 1. FFC Turbine Potsdam ins Nirgendwo. Einen stolzen, verstohlenen Blick seiner Ehemaligen musste sich Meistertrainer Schröder gefallen lassen. Sarah Doorsoun-Khajeh hat in Essen ihre Traumrolle gefunden – das harte Jahr in Potsdam hat sie weiter gebracht. Für ihre neue Mannschaft SGS Essen geht der Wunschtraum vom Pokalfinale weiter.

SGS Essen: 1-Lisa Weiß – 11- Irini Ioannidou (16-Jacquline Klasen,58.), 6-Vanessa Martini, 18-Lena Ostermeier, 7-Sarah Freutel – 23-Sarah Doorsoun-Khajeh, 21-Ina Mester, 10-Linda Dallmann, 8-Madeline Gier (9-Isabelle Wolf, 61.) – 13-Charline Hartmann, 15-Natalia Mann (2-Dominique Janssen, 90.). – Trainer: Markus Högner

1.FFC Turbine Potsdam: 32-Ann-Katrin Berger – 18-Alexandra Singer, 22-Stefanie Draws, 4-Johanna Elsig (14-Jennifer Zietz, 83.), 21-Tabea Kemme – 31-Pauline Bremer, 3-Lia Joelle Wälti, 5-Maren Mjelde – 25-Lisa Evans,  6-Genoveva Anonma, 9-Ada Hegerberg (19-Antonia  Göransson, 75.) – Trainer: Bernd Schröder

Tore: 0:1 Anonma (48.), 0:2 Hegerberg (63.), 1:2 Hartmann (76.), 2:2 Dallmann (79.), 3:2 Doorsoun-Khajeh (87.).

Schiedsrichterin: Christina Biehl (Schwollen)
Zuschauer: 812

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