Strukturwandel statt Wettverluste – Serie: Kasino-Kapitalismus – Über verräterische Bemerkungen des Hans-Werner Sinn (Teil 1/5)

"Kapitalismus" von Hans-Werner Sinn. © Econ

Das falsche Bild war nötig, um die offenkundigen Ursachen des heftigen Weltmarktgewitters zu vernebeln. Ein Kasino lässt sich ja schließen, während der systematische Zwang zur industriellen Profitproduktion als Ursache einen Systemwechsel forderte, den Ideologen wie Sinn unbedingt verhindern wollen. Wofür sonst werden sie bezahlt? Wenn wir das Unheil der spektakulären „Finanzkrise“, die uns heimgesucht haben soll, dem Versagen der amtlichen und privaten Aufpasser und Mitmacher wie auch den falschen „Anreizsystemen“ verdanken, dann wird die Sache mit der Ausräumung dieser Fehlerquellen auch wieder in Ordnung kommen. Und die finanziellen Verluste für die vermögenden Gesellschaftsklassen lassen sich doch auch rasch ersetzen! Die Heilung einer finanziellen Fehlentwicklung ist das berechnende Versprechen der ideologischen Stände:

Die Finanzkrise ist keine Krise des Kapitalismus, sondern eine Krise des angelsächsischen Finanzsystems, das zum Kasino-Kapitalismus mutierte (!) und leider auch in Europa immer mehr Nachahmer gefunden hat“ (Vorwort, S.12f).

Einer Finanzkrise begegnet man mit allerlei Finanzmarktoperationen zur Kontrolle und Einhegung der sie verursachenden menschlichen Schwächen und Fehler. Davon macht Sinn in seinem Buch auch allerhand Wesen. Originell ist das nicht, denn seine linken Gesinnungsfreunde haben das Thema schon seit Jahren mit Hingabe behandelt und ihm auch seine kunterbunten Beweismittel geliefert (2). Im Unterschied zu diesen Leuten verleumdet er den “Finanzmarktkapitalismus” allerdings umstandslos vom Standpunkt der herrschenden Ordnung, um für die unvermeidlichen Härten der besonderen Art, die das kapitalistische System für die hervorbringenden Klassen jetzt auch in den bisher privilegierten Beutegebieten des Kapitals bereithält, vorsorglich auswechselbare Schuldige an den Pranger zu stellen. Jeder mit den absehbaren Turbulenzen aufkommende Zweifel an der besten aller Produktionsweisen soll radikal getilgt werden durch die Diskreditierung einiger Bankleute und einiger ihrer besonderen Geschäftsmodelle.

Strukturwandel statt Wettverluste

Nach reichlichen 200 Seiten Schreiberei verlässt aber die Katze den Sack und dementiert der Professor den Titel seines Buches unerwartet deutlich, denn mit der Schließung des Kasinos wäre nichts erreicht, erzählt er jetzt, es gehe um etwas ganz anderes:

„Es geht bei alldem um die Grundfrage, ob der Staat den Strukturwandel bremsen (!) sollte“ (238).

Der allgegenwärtige Strukturwandel ist allerdings das, was den Mann beunruhigt und beunruhigen muss, aber ein solcher Wandel ist eben kein „mutiertes Finanzsystem“, sondern eine Angelegenheit der gesellschaftlichen Produktion, die sich nicht mit Regulierungen des Finanzmarktes wird meistern lassen. Und deutliche Produktionsregulierungen sollen ja unbedingt vermieden werden! Weil Sinn fürchtet, dieser Wandel könnte irgendwie durch eine übermäßige Schonung der arbeitenden Menschen behindert werden, warnt er vor einer entsprechenden staatlichen Einmischung und preist mit missionarischem Eifer die Vorzüge der staatlichen Enthaltsamkeit:

„Der Strukturwandel ist das Geheimnis des Fortschritts, und natürlich findet er nicht in der Hochkonjunktur statt, sondern in der Flaute. Marode Strukturen, die sich in guten Zeiten gerade noch halten konnten, zerbrechen erst in der Krise. Die schwächeren Firmen verschwinden und machen Platz (!) für neue, die dann im nächsten Aufschwung entstehen (239)“.

Wenn der Strukturwandel das Geheimnis eines Fortschritts ist, was ist dann das Geheimnis dieses angeblichen Geheimnisses? Eine uralte Erfahrung, die sich täglich wiederholt: Wird mit weniger Arbeit dasselbe Ergebnis erreicht, dann kann Zeit frei werden für andere Lebensäußerungen, und die Herausbildung neuer Betätigungsweisen kann man als einen Strukturwandel beschreiben. Dann aber ist der nur ein anderer Ausdruck für die Neuverteilung der gesellschaftlichen Arbeit infolge ihres Produktivkraftfortschritts. Und er ist eben nicht umgekehrt das “Geheimnis“ irgendeines Fortschritts, wenngleich er allerdings gleichbedeutend sein mag mit der fortschreitenden Bereicherung der besitzenden Klassen.

Anmerkungen:

(1) Hans-Werner Sinn, Kasino-Kapitalismus, Berlin 2009

(2) Der bedauernswerte Professor Hickel war von dem Werk seines Kollegen denn auch dermaßen begeistert, dass er es schließlich für völlig überflüssig gehalten hat, ein eigenes Pamphlet zur Finanzmarktkrise auf den Markt zu bringen: Hickel schreibt an Sinn am 29.7.2009 nicht gerade dünn und trocken: „Auf mein geplantes Buch kann ich nach der Vorlage Ihres ´Kasinokapitalismus ´ nicht nur wegen der großen Übereinstimmung sondern auch der ausgesprochen gelungenen didaktischen Umsetzung (einschließlich der Grafiken) gerne verzichten“. Sogar den täuschenden Buchtitel hatte Herr Hickel dem Herrn Sinn in einem Aufsatz schon vorformuliert: “Keynes und der Kasinokapitalismus”, Hickel, Rudolf, Blätter für deutsche und internationale Politik 5/200

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Die Erstveröffentlichung erfolgte in Proletarische Briefe am 24.11.2010.

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