Stärker als Waffen – Deutschlandpremiere eines Dokumentarfilms über die Ukraine made in Ukraine

© Foto: Me Maya

Die Premiere in Berlin am Montag, 22. Dezember fand am selben Tag statt, als die Normandiegruppe in einer Gipfel-Telefonkonferenz über die Situation in der Ukraine und in den Separatistengebieten sprach. Im Juni hatten sich in Frankreich am Rande der Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag der Landung der Anti-Hitler-Alliierten in der Normandie die Präsidenten der französischen Republik, der Ukraine, Russlands und der USA sowie die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland miteinander ausgetauscht. Dies wurde als entspannend wahrgenommen, was sonst in der öffentlichen Wahrnehmung schwierig geworden war. Daher der Begriff „Normandieformat“. Muss ja wichtig gewesen sein, man hat zwei Tage vor Heiligabend bestimmt nicht nur Festtagsgrüße ausgetauscht. Auch wenn im mehrheitlich christlich-orthoxen Osten Europas das religiöse Weihnachten 14 Tage später gefeiert und der Elkabaum erst zum 1. Januar aufgestellt wird.

Im Kino trafen sich nicht die Herrscher, sondern Publikum und Filmemacher mit einem hohen ukrainischen und russischen Anteil. Überhaupt: diese Unterscheidung ist ja so leicht nicht oder zumindest nicht für alle Bewohner der beiden UdSSR-Nachfolgestaaten zu treffen. Genau wie in Schottland viele Engländer wohnen und es gemischte Familien gibt, wird man auch in Kroatien erst nach langem Suchen mal eine Familie finden, die bis zu den Urgroßeltern nur aus „Kroaten“ besteht. In der Tschechoslowakei entstanden am 1. Januar 1993 zwei neue Staaten, die Einwohner blieben vermischt. Davon abgesehen, dass die moderne Nationalstaaterei nicht nur in Syrien und Libyen mit ihren künstlichen, schnurgeraden Grenzziehungen an ihre Grenzen stößt, wollen wir trotzdem auf das Thema „Ukraine“ eingehen.

Die Erstaufführung im Filmtheater wurde begleitet von einer Diskussion mit den Regisseuren, beides angekündigt und moderiert von Wladimir Kaminer. Geht es um Film und Berlinale, wird Knut Elstermann gerufen. Z.B. zum Pressegespräch im Anschluss an die Preisverleihung „Made in Germany – Förderpreis Perspektive“ am 19. Januar 2015 in der Deutschen Kinemathek im Sony-Center. Geht es um Russland, wird Kaminer gerufen. 1990, unter Gorbatschow, erhielt er in Deutschland Asyl. Es war die DDR vor der Einführung der D-Mark. Nach dem Beitritt zur BRD besetzte Kaminer eine Nische, hatte eine wöchentliche Radiosendung im SFB 4, war journalistisch tätig, organisierte zusammen mit Yuriy Gurzhy die „Russendisko“ und schrieb darüber; allein das gleichnamige Buch wurde innerhalb eines Jahrzehnts ein Megaerfolg. Auch seine Frau Olga schreibt; über die 2K – Küche und Katzen – und Themen wie „Weihnachten auf Russisch“. Moment, Russland? Es ging doch um die Ukraine? Und kommt Kaminer nicht aus der Sowjetunion? Egal jetzt, Kaminer ist der Mann für solche Themen! (Und er hat Humor.)

#Babylon’13 ist eine Initiative, die von zehn Vertretern des ukrainischen Films gegründet wurde, darunter sowohl alte Bekannte als auch neue Gesichter. Sie will zu einem besseren Verständnis der Ereignisse in ihrem Land zwischen den optimistischen Tagen auf dem Euromaidan und dem bewaffneten Konflikt in der Ostukraine beitragen. Auch will sie dadurch die Entstehung einer gesunden Zivilgesellschaft unterstützen. Beides ist dringend nötig, doch Vorsicht ist geboten. Man darf nicht alles glauben. Es geht einfach um zuviel. Nicht nur, weil die Ukraine einst eine Kornkammer war, bevor die UdSSR beim Klassenfeind USA Getreide einkaufen musste. Nicht nur, weil hier eines der wenigen anarchistischen Gemeinwesen der Weltgeschichte geschaffen wurde, bevor die Kommunisten es mit Waffengewalt zerstörten. Freiheit und Demokratie sind hehre Werte. Doch in Westeuropa glaubt man immer gleich, dass ein Land, in dem solche Bestrebungen laut werden, den „westlichen Weg“ ginge und in die EU aufgenommen werde müsse. Der Westeuropäer wundert sich auch kaum, wenn ihm vorgegaukelt wird, dass der Beitritt zur NATO eine „natürliche Folge“ sei. Hier ist der Propaganda mehrerer Seiten Tür und Tor geöffnet, doch bevor man sich auf die falsche Seite ziehen lässt, sollte man sich gründlich informieren und im Hinterkopf behalten, welche Atommächte hier beteiligt sind.

„Stronger than Arms“ zeigt die Entwicklung der Verhältnisse in der Ukraine vom „spontanen“ Versuch am 1. Dezember 2013, die Amtsgebäude der Regierung einzunehmen bis hin zu den blutigen Schlachten in den Ruinen des Flughafens von Donezk. Der Film ermöglicht einen Einblick in die Hochstimmung der Ereignisse auf dem Maidan und die Verzweiflung angesichts des Krieges im Osten. „Stärker als  Waffen“ – da denkt man an zivilen, gewaltfreien Widerstand eines Mahatma Gandhi. Doch kann „die Zivilgesellschaft“ in der Ukraine dieses Versprechen einlösen? In puncto Tugenden, Werteverinnerlichung, Strategie, Respekt vor Tieren (Vegetarismus)? Oder ist es einfach nur ein Titel, zu schön um wahr zu sein? Auch Propaganda ist stärker als Waffen und kann benutzt werden, um ein Land unter Kontrolle zu bekommen.

Am 21. November 2013 wurde entschieden, das Assoziierungsabkommen mit der EU vorerst nicht zu unterzeichnen. Das war der Auslöser für Proteste, bei denen sich verschiedene Interessengruppen zusammenzuschlossen, darunter auch Filmemacher. Trotz teils widriger Umstände oder sogar Lebensgefahr arbeiten sie bis heute an der Errreichung ihrer Ziele. Das Filmkollektiv Babylon’13 schloss sich mit Bürgervereinigungen und Medienorganisationen im Land zusammen, darunter HromadskeTV, Euromaidan SOS, Centre UA und Automaidan. Diese Zusammenarbeit ermöglichte in Ko-Produktion mit dem Fernsehsender 1+1 eine Reihe von Dokumentarfilmen unter dem Titel “The Winter that Changed Us All.” Die Gruppe dokumentierte den Wandel in der Ukraine aus ihrer Sicht und erzählt die Geschichten des Engagements einzelner. Dabei entstanden über 170 Kurzfilme und mehr als 1000 Stunden Dokumentarmaterial über die sogenannte „Revolution der Würde“. Insgesamt wurden Filme der Gruppe bislang mehr als fünfeinhalbmillionenmal angeklickt. Internationale Sender wie CNN, Al Dschasira und ITN sendeten dieses Material später auch. Dadurch erreichte die Geschichte der Stärkung der ukrainischen Zivilgesellschaft noch ein größeres Publikum. Mitglieder von Babylon’13 sind inzwischen zu über 300 Einzelvorführungen, Diskussionen und Festivals in vielen Ländern eingeladen worden. Ihre Arbeit wurde mit Preisen ausgezeichnet.

Nun, in Mitteleuropa ist man geneigt, jedem Engagement für die Bürgerrechte zu applaudieren. Zu Recht. Doch wem nützt der Applaus? Welche und wessen Interessen sind und waren in dem Machtkampf in Kiew berührt? Denn darum geht es, um Macht, und um viel Geld im Zusammenhang mit Märkten und Rohstoffen.

Irgendwie fallen einem dazu Bilder aus anderen potentiell (rohstoff-)reichen Ländern ein. Gaddafi und Hussein verfügten über viel Öl und eine Armee. Lange arbeitete der Westen mit ihnen zusammen. Dann wurden sie verteufelt und zum Sündenbock erklärt und endeten im Dreck.

Viktor Janukowitsch ist kein Heiliger, aber manche Vorgänge sind schon abenteuerlich. Im Februar 2010 gewann er knapp die Präsidentenwahl gegen Julija Tymoschenko und Wiktor Juschtschenko, der schon im 1. Wahlgang ausschied. Am 23. Februar 2014 wurde er vom Parlament abgesetzt, weil er das Land verlassen habe. (Nach dieser Logik wären die Ämter von Obama und Putin bei ihrem Besuch in der Normandie auch gefährdet gewesen.) Nach höchstem ukrainischen Recht ist das aber gar kein Absetzungsgrund. Paragraph 108 der Verfassung sieht genau vier Gründe für eine Absetzung vor: gesundheitliche Gründe, Rücktritt oder Tod des Präsidenten und ein Amtsenthebungsverfahren. Ein solches wurde nicht durchlaufen, zurückgetreten ist Janukowitsch auch nicht. Das ist – gelinde gesagt – zumindest merkwürdig.

Wenn „der Westen“ „im Recht“ ist, sollte es doch verflixt noch einmal  möglich sein, das Recht auch einzuhalten. Wenn „die ukrainische Gesellschaft“ eine „Entscheidung für Europa“ getroffen hat und es nicht um Fracking und Gasexport geht, dann müsste das doch auch mit demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln zu bewerkstelligen sein. Sonst muss sich „der Westen“ einen Putsch oder dessen Unterstützung vorwerfen lassen. Wozu die Eile, wenn doch alles mit rechten Dingen zugeht?

Bürgerrechte und Menschenrechte, Freiheit und Demokratie sind schöne Werte. Jahrhundertlanger Kampf darum in England, Frankreich und Deutschland und anderswo machen sie umso wertvoller. Fadenscheiniger Kampf für Demokratie und Einmischung in die inneren Angelegenheiten in Öl- und Gasstaaten sind kontraproduktiv, schädigen die Werte des Westens und seine Glaubwürdigkeit weltweit.

Janukowitsch trat nicht zurück. Er stammt aus der Oblast Donezk, wo Bayern München in der Champions League gegen Schachtar Donezk spielen wird (Hinspiel 17.2., Rückspiel 11.3.2015). Macht ihn das verdächtig? Er setzte sich erst auf die Krim ab, dann nach Russland. Gehen da nicht gleich alle roten Lampen an? Die bundesdeutsche Presselandschaft hat 2014 in punkto Objektivität beim Thema Ukraine versagt. Wenn es ähnlich wie im Irak und in Afghanistan, ähnlich wie in Syrien und Libyen hauptsächlich um Demokratie und Menschenrechte geht, dann ist ja alles in Ordnung, oder? Und wenn es keine Massenvernichtungswaffen gibt, umso besser. Wenn Washington die Ukraine aber zu einem neuen Kuba macht, dann ‚Gute Nacht‘.

Diese Welt existiert so lange in dieser Form, wie die Atomraketen aus ihren Silos im Mittleren Westen und in Sibirien nicht abgefeuert werden. Einen entscheidenden Friedensbeitrag leistet dabei die Vorwarnzeit. Ja, wir sind von der Technik abhängig. Raketen- und Abfangjägerflugzeiten sind Fakten. Geschwindigkeit ist Weg durch Zeit. Düsenflieger sind schnell. Wenn der Weg zu kurz wird, steigt die Atomkriegsgefahr in Unermessliche. Der Weltuntergang ist dann aller Wahrscheinlichkeit nach nur eine Frage der Zeit.

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