Im Stück bricht eine Familie auseinander, als die Schuld des Vaters am Tod von 21 Piloten während des Kriegs ans Licht kommt. Das klingt nach Ibsen, in dessen Nachfolge Arthur Miller sich selbst auch gesehen hat. Nur sind die Personen in Ibsens Dramen sehr viel feiner strukturiert als die grob gerasterten Figuren bei Miller. Dieser entwarf in „Alle meine Söhne“ das typische Modell einer Kleinfamilie, deren Mitglieder weniger Individuen und mehr Funktionsträger sind.
In einem Rückblick lässt Regisseur Roger Vontobel diese Familie zu einer Zeit in Erscheinung treten, als die Welt für die Kellers noch in Ordnung war. Während das Publikum hereinkommt und in den Sitzreihen Platz nimmt, die ein Stück Rasen, das Bühnenbild von Claudia Rohner, von vier Seiten einschließen, laufen fünf fröhliche Kinder herum, spielen auf dem Rasen Ball mit dem Familienoberhaupt Joe Keller und vergnügen sich mit Hula-Hoop-Reifen. Mutter Kate steht etwas abseits und sorgt für das leibliche Wohl, indem sie Würstchen grillt und Getränke verteilt. Später nimmt auch sie am Freizeitspaß im eigenen Garten teil.
Die Kinder, das sind Larry und Chris, die beiden Söhne der Kellers (Lenz Lengers und Leonard Däscher), Ann und George Deever, die Sprösslinge von Joes Kompagnon (Helena Lengers und Farajallah Diab) und das Nachbarskind Lydia Lubey (Karolin Wiegers).
Wenn das Stück anfängt, ist Larry Keller tot. Er war Kampfflieger und beging Selbstmord, weil er das Verbrechen seines Vaters nicht verkraften konnte. In seiner Familie gilt er als vermisst, obwohl nur Kate noch an die Rückkehr ihres ältesten Sohnes glaubt. Für Joes Verbrechen, die Lieferung schadhafter Flugzeugteile an die Armee, sitzt sein Kompagnon im Gefängnis.
Aber nun will Chris Deevers Tochter Ann heiraten, die dazu noch Larrys Verlobte war. Auch Anns Bruder George erscheint auf der Bildfläche, nachdem er mit seinem Vater gesprochen hat, und Lydia Lubey (Angela Meyer) berichtet, dass sie, wie auch die übrige Nachbarschaft, den Verdacht hegt, nicht Deever, sondern Joe Keller sei der wahre Kriegsverbrecher.
Als Nachbarschaft fungiert auch das Publikum, das die Kellers in ihrem Garten beobachten und außerdem auf zwei Leinwänden in Großaufnahmen betrachten kann.
Minuziöse Überwachung ist nicht wirklich notwendig, denn die Handlung des Stücks verläuft leicht überschaubar, und das hervorragende Schauspielensemble bedarf der filmischen Nachhilfe nicht, obwohl die Videobilder eine hübsche Abwechslung sind.
Jörg Pose charakterisiert Joe Keller als jovialen Patriarchen, zunächst völlig selbstsicher, so als habe er seine Schuld erfolgreich verdrängt. Als er jedoch mit Chris über Deever spricht, seine Bereitschaft bekundet, dem ehemaligen Geschäftspartner nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis zu helfen, ihn sogar wieder in die Firma aufzunehmen, da ist ein bisschen Angst vor der Zukunft bei Joe spürbar, zugleich aber seine Gewissheit, jede kritische Situation meistern zu können.
Wie überzeugend Joe Keller sein kann, beweist er in der Auseinandersetzung mit Deevers Sohn George. Wortgewaltig und mit unwiderstehlicher Herzlichkeit gelingt es Joe, das Misstrauen und die Feindseligkeit des jungen Mannes zu besiegen und George auf seine Seite zu ziehen. Diese kleine Szene ist eine brillante Leistung von Jörg Pose.
Zu einem Happy-End kommt es nicht, weil nun Kate Keller endlich die Wahrheit sagt. Ulrike Krumbiegels Kate steht die ganze Zeit über deutlich unter Spannung. Sie weiß um die Schuld ihres Mannes, aber als pflichtbewusste Ehefrau hütet sie Joes Geheimnis. Die Angst jedoch, nicht nur Chris sondern auch Joe könnte den vermissten Larry für tot erklären, setzt Kate in immer stärkerem Maße zu, lässt sie hektisch erscheinen in ihrer gespielten Munterkeit. Als Joe dann seine Zustimmung zur Heirat von Chris und Ann gibt, kann Kate nicht mehr schweigen. Sie offenbart Joes Verbrechen, auch wenn sie die Anklage gar nicht ganz herausbringen kann und unter ihrem Verrat zusammenbricht.
Für Chris bedeutet diese Eröffnung eine unfassbare Katastrophe. Daniel Hoevels ist der Sohn, der im Schatten seines Übervaters ein kleiner Junge geblieben ist, ein hübsches Nichts, bezaubernd in seiner Verliebtheit in Ann, aber kein Mann, der Problemen gewachsen ist. Am Ende bewegt er sich wie ein Roboter, und schreit immer wieder verzweifelt die Frage heraus, was er denn nun tun solle.
Während Kostümbildnerin Dagmar Fabisch die Familie Keller mit adretter Freizeitkleidung und konventioneller Abendgarderobe ausgestattet hat, sind Ann und George Deever, die Kinder des vermeintlichen Verbrechers, nachlässig, fast verlottert, bekleidet.
Ole Lagerpusch präsentiert George als sensiblen Rebellen. Ann (Meike Droste) entwickelt, nach anfänglicher Unsicherheit, zunehmend Selbstvertrauen und Entschlossenheit. Ann hat die Verbindung zu ihrem Vater nach seiner Verhaftung abgebrochen und reagiert souverän auf die neuen Entwicklungen. Sie will mit Chris anderswo ein neues Leben beginnen und die überkommenen Familienbindungen hinter sich lassen, auch wenn Chris dazu kaum imstande sein dürfte. Ann dürfte es jedoch auch allein schaffen.
„Alle meine Söhne“ von Arthur Miller hatte am 16.12.2010 Premiere in den Kammerspielen. Weitere Vorstellungen: 10., 11., 20. und 21. Januar 2010.