Berlin, Deutschland (Weltexpress). Keine Contenance beim Skispringen? Werner Schuster, Cheftrainer der bundesdeutschen Skispringer, hat seit seinem Amtsantritt vor zehn Jahren mit seinen Schützlingen jede Menge Erfolgs-Lorbeer geerntet. Ob im Weltcup-Zirkus, bei Weltmeisterschaften, im Skifliegen oder bei Olympischen Winterspielen – die Schuster-Jungs waren fast immer auf dem Podium vertreten. Und nicht selten standen die Adler von Bundestrainer Schuster gar auf dem obersten Treppchen.
Nur bei einem Wettbewerb des prestigeträchtigen Schanzenfliegens war es irgendwie wie verhext. Da gab es beim der traditionsbeladenen Vierschanzen-Tournee zwischen Oberstdorf und Bischofshofen einfach keinen deutschen Nachfolger von Sven Hannawald. Der überschlanke Schlaks aus dem Erzgebirge hatte 2002 als letzter der schwarz-rot-gelben Flieger unter den Fittichen des viel zu früh verstorbenen Bundestrainers Reinhard Heß dieses Sportspektakel zu Jahresbeginn zu seinen Gunsten entschieden. In einer fulminanten Art und Weise, die einen bis dahin noch nie in deutschen Landen erlebten Skisprung-Hype auslösten. Hannawald behauptete sich, auch dank Unterstützung der euphorisierten Zuschauer und im Unterbewußtsein manchen Kampfrichters, auf allen vier Tournee-Stationen als Sieger. Hannahwald gelang, was vorher noch nie selbst den Größten dieses Hochrisiko-Sports seit der Premiere vor 65 Jahren gelungen war.
Start mit den zwei Weltcup-Ersten
Hannawald verlor nach diesem einmaligen Höhenflug ein wenig den Sinn für die Realitäten des Leistungssport-Alltags. Haderte mit schwächeren Leistungen und beendete nach Magersucht-Problemen und einem Burnout seine Springer-Laufbahn. Zum Glück hat er diese Negativphase gemeistert und begleitete die aktuelle Tournee am Mikrofon als Experte für Eurosport.
Der Moment sei nun gekommen, dass er einen nationalen Nachfolger als Tourneegewinner finden würde, hatte Hannawald seinen Optimismus vor dem Auftakt am Neujahrstag in Oberstdorf verkündet. Und damit die allgemeine Erwartungshaltung in den deutschen Medien noch befeuert. Immerhin ging der Gastgeber der ersten beiden Springen mit zwei Akteuren als die aktuell Punktbesten in der saisonalen Weltcupwertung an den Start: Richard Freitag aus dem Erzgebirge und Andreas Wellinger aus Bayern.
Doch nach zwei eindrucksvollen Tageserfolgen des 30-jährigen Polen Kamil Stoch, der im Gegensatz zu Freitag (26) und Wellinger (22) bei allen Großereignissen triumphieren konnte und damit zur Hand voll der erfolgreichsten Schanzenflieger überhaupt zählt, stürzte Freitag auf der dritten Station in Innsbruck.
Er setzte bei 130 m zur Landung auf, hatte aber die Ski noch nicht auseinander gefahren. Die Hinterenden überkreuzten sich und Freitag fiel vornüber in den nassen Schnee. Damit war der Traum von einem „historischen Erfolg“ (so Schuster) beendet.
Hätte die Jury den Anlauf verkürzen müssen?
Freitag kann von Glück reden, dass er mit erheblichen Prellungen davon kam. Doch die Tournee war für ihn passe – auch, um nicht die weiteren Saisonziele wie die Skiflug-WM in der kommenden Woche in Oberstdorf oder die olympischen Wettbewerbe im Februar in Südkorea zu gefährden.
Der Bundestrainer verlor angesichts dieses Mißgeschicks ganz und gar gegen sein gewohntes Auftreten die Contenance. Schuster machte die Jury und namentlich den Technischen Delegierten Loeng aus Norwegen für den Sturz verantwortlich. Die Jury hätte den Anlauf vor Freitag verkürzen müssen, „dann wäre der Sturz nicht passiert.“
Der Deutsche Horst Hüttel, Technischer Direktor Sprung im Deutschen Ski-Verband, folgte der Kritik des Österreichers Schuster am Nichteingreifen der Jury. Und zudem sei der Landebereich „wie immer in Innsbruck“ schlecht hergerichtet gewesen. Schuster wie Hüttel erweckten so auf internationaler Bühne den Eindruck von schlechten Verlierern.
Außer Freitag kein weiterer Sturz
Denn außer Freitag war von den 50 Finalisten keiner strafwürdig zu Boden gegangen. Trotz insgesamt unangenehmer Bedingungen mit teilweise Regen, Wind, nicht überall optimal präpariertem Hang und schlechter Sicht. Wellinger hatte zuvor die Weite von 133 m schadlos gemeistert. Warum also sollte die Wettkampfleitung ausgerechnet vor Freitags Versuch den Ablauf verändern?
Die emotionale Überreaktion Schusters verdeutlicht nur, wie sehr er den ersten Gesamtsieg unter seiner Verantwortung herbei gesehnt hatte.
Denn der Sieg bei der Vierschanzen-Tournee hat in der Branche – und besonders auch in Österreich und Deutschland – einen besonderen Stellenwert. Weltmeister oder Olympiasieger wird man mit zwei Sprüngen in einem Tageswettbewerb – um den goldenen Adler als Gesamtgewinner bei der Tournee überreicht zu bekommen, muss man über zwei Wochen in acht Wertungssprüngen plus Qualifikation auf vier verschiedenen Anlagen bei unterschiedlichsten Wetterbedingungen stets ganz vorne dabei. Und darf sich keinen Fehler erlauben.
Freitag verpasste im Sekundenbruchteil mit einem fatalen Moment der Unaufmerksamkeit alle Chancen. Nicht so deutlich und krass patzten heuer die Mitfavoriten Stefan Kraft (Österreich), Daniel Andre Tande (Norwegen) und Peter Prevc (Slowenien) durch fehlerhafte Sprünge.
Trainer Schuster muss weiter auf den Tourneesieg hoffen
Dass der Vierfach-Härtetest ein besonderes Maß an Können, Konstanz und Glück erfordert, lässt sich daran festmachen, dass beispielsweise mit dem zweimaligen Doppel-Olympiasieger Simon Ammann (Schweiz) und Weltmeister und Olympiagold-Gewinner Martin Schmitt (Deutschland) zwei herausragenden Athleten der Tournee-Triumph verwehrt blieb.
Gleiches gilt für den aktuell nach zweitem Kreuzbandriss außer Gefecht gesetzten Severin Freund. Der zwar unter Schusters Anleitung Weltmeister, Olympiahero und Skiflug-WM-Champion wurde, aber dessen Traum vom Tourneesieg nicht erfüllen konnte.
Was beim ehrgeizigen Österreicher Schuster Frustgefühle nach Freitags Absturz ausgelöst haben dürfte, könnte auch in der Tatsache begründet sein, dass Austrias Springer von Thomas Morgenstern über Gregor Schlierenzauer bis 2016 Stefan Kraft sieben von zehn der letzten Tourneegewinner stellten.
Diese Serie mit einem seiner Schützlinge beim großen Nachbarn Deutschland zu durchbrechen, das hätte Schuster auch daheim eine besondere Anerkennung und Wertschätzung eingebracht.
Das heimste nun reichlich und verdient sein Landsmann und Trainerkollege Stefan Horngacher mit Kamil Stoch ein. Jener schaffte als Tage-Vierfachgewinner und Titelverteidiger des Vorjahres einen triumphalen Gesamtsieg – als Zweiter nach Hannawalds Vierfach-Coup 2002!
Dass Schuster in der ersten großen Enttäuschung über das Scheitern seines aussichtsreichsten Sportlers Freitag – Andreas Wellinger wurde am Ende immerhin noch Zweiter der Gesamtrechnung – die Schuld vor allem bei anderen suchte, muss ihm selbst etwas peinlich gewesen. Und so verwies er auf sein generelles Unbehagen über die verwissenschaftlichen Wertungsmodalitäten: Je nach Wind und Anlauflänge und Weite in Bezug zum K-Punkt gibt es für die Protagonisten Bonuspunkte oder Abzüge – für Zuschauer kaum noch nachvollziehbar.
Und Schuster nannte das Beispiel, als der Österreicher Christian Leitner in der Qualifikation mit 126 m und entsprechenden Abzügen auf Rang 42 landete – und Richard Freitag nach Bonuszuschlägen mit 125 m auf Platz drei!
Da wüßte der Fan auf den Rängen, und da muss man Schuster uneingeschränkt zustimmen, denn gar nicht mehr, wem er für eine Leistung zujubeln oder nur einfach den Kopf schütteln solle!