Zwei Stücke im Rahmen der Autorentheatertage thematisieren die Schicksale von Flüchtenden, die in Europa eingetroffen sind, hier jedoch nicht angenommen werden.
Schauplätze sind die Niederlande und Österreich. Vergleichbares geschieht jedoch auch in Deutschland.
In den Niederlanden leben etwa 10 000 abgelehnte Asylbewerber, die nicht ausgewiesen werden dürfen. Etwa 400 dieser Menschen, die als illegal gelten, haben in Amsterdam die Kooperative „We Are Here“ gegründet. Durch die Begegnung mit dem Regisseur Nicolas Stemann entstand daraus die Theatergruppe „Frascati Theater Amsterdam“. Das von den Geflohenen und immer noch Fliehenden aufgrund ihrer Erfahrungen verfasste Stück „Labyrinth“ wurde, mit Inszenierungshilfe von Stemann, im letzten Jahr in Amsterdam uraufgeführt und zu den Autorentheatertagen nach Berlin eingeladen.
Die Veranstaltung konnte nicht wie geplant stattfinden, denn von den 22 DarstellerInnen dürfen 20 nicht reisen. Um auf diese Ungeheuerlichkeit aufmerksam zu machen, wurde das originale Bühnenbild trotzdem nach Berlin gebracht und im Deutschen Theater aufgebaut. Die Szenen des Stationenstücks sahen die ZuschauerInnen als Videoaufzeichnungen.
Einen Tag lang, von 17 bis 21 Uhr, wurde das Publikum in kleinen Gruppen von einer mit bunten Vorhängen abgeteilten Zelle in die nächste geführt, Treppen hinauf und hinunter, manchmal festgehalten, manchmal eilig weitergeschickt. Jedes Mal aber ermahnt, eingeschüchtert und ohne jeden Respekt behandelt.
Selbstverständlich bedeutet dieser verwirrende Rundgang nicht, am eigenen Leib zu erfahren, was die Asylsuchenden erlebt haben. Wir, die BesucherInnen, haben gültige Papiere, können jederzeit aus dem Spiel aussteigen und, wenn wir es uns leisten können, eine Luxusreise buchen, die weniger kostet als der lebensgefährliche Transfer, den die Flüchtenden auf sich genommen haben in der Hoffnung, ihr Leben zu retten.
Es sind keine Penner, die in Europa Zuflucht suchen, auch wenn sie, wie wir erfahren, offenbar dazu gemacht werden sollen. Anfänglich müssen wir alle einen Fingerabdruck geben und bekommen ein Papier ausgehändigt, das uns als Mohammed Hassan Abdi ausweist. Ein Beweis für unsere Identität ist das jedoch nicht. Mohammed stammt aus einer Gegend Somalias, in der niemand Papiere hat. Er muss die Behörde davon überzeugen, dass er derjenige ist, der er zu sein behauptet.
17 Stationen durchläuft das Publikum. Mohammed kommt ins Gefängnis, weil er sich weigert, nach Somalia zurückzukehren. Er lebt auf der Straße. Er hat einen Anwalt, der seinen Fall vor Gericht bringt. Der Fall wird abgelehnt. Man glaubt nicht, dass Mohammed in seiner Heimat in Lebensgefahr ist.
Was wir in einer Stunde durchlaufen, dauert für Mohammed fünf Jahre, von denen er einige ohne Unterkunft auf der Straße verbringt und etliche Monate im Gefängnis sitzt. Danach wird sein Fall mit einem neuen Anwalt neu aufgerollt. Die Prozedur beginnt von vorn, ohne Gewähr, dass Mohammed eine Chance bekommt, in Europa zu bleiben.
Zu Beginn der Veranstaltung haben sich die beiden Mitglieder der Truppe, die eine Reiseerlaubnis haben, dem Publikum vorgestellt, eine junge Frau und ihr etwas älterer Bruder. Sie wirken weder verbittert noch unterwürfig. Sie sagen, dass sie glücklich sind, in Europa zu sein.
Nicolas Stemann hat auch „Die Schutzbefohlenen“ von Elfriede Jelinek inszeniert. Die Produktion des Thalia Theaters Hamburg war beim diesjährigen Theatertreffen zu erleben. Bei den Autorentheatertagen gastierte das Wiener Burgtheater mit Michael Thalheimers Inszenierung des Stücks, in dem Elfriede Jelinek sich auf „Die Schutzflehenden“ von Aischylos bezieht und sowohl die Proteste von Flüchtenden vor und in der Wiener Votivkirche als auch die Katastrophe im Mittelmeer vor Lampedusa thematisiert.
Olaf Altmann hat die Bühne in ein schwarz ausgeschlagenes Kirchenschiff verwandelt, auf das nur von einem riesigen Kreuz im Hintergrund Licht fällt. Das Kreuz bietet einen schmalen Durchgang, durch den sich nacheinander 16 SchauspielerInnen zwängen, um dann ins Wasser zu fallen, von dem der ganze Bühnenboden knietief bedeckt ist.
Die SchauspielerInnen sind schwarz gekleidet und zu Beginn sind ihre Gesichter von farbigen Plastikmasken bedeckt. Nachdem sie wie Ertrinkende gegen das Wasser gekämpft haben, stehen die AkteurInnen auf und formieren sich zu einem Chor, der in gebeugter Haltung mit Flüsterstimmen seine Klage beginnt: „Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben nach Verlassen der heiligen Heimat.“
In einer hervorragenden Choreographie löst der Chor sich immer wieder auf und fügt sich neu zusammen. Dazwischen verteilen sich die Menschen auf der Bühne, stehen oder liegen im Wasser und sprechen als Einzelne. Sie stellen Forderungen, berichten von dem Grauen, vor dem sie geflohen sind, präsentieren sich als beeindruckende Persönlichkeiten, die dort, wo sie Hilfe erwartet hatten, wie Dreck behandelt werden.
Es ist eine grandiose Leistung der SchauspielerInnen, den nicht nach Rollen unterteilten Text mit seinen oft albernen Wortspielen und Kalauern in etwas so Lebendiges und unmittelbar Berührendes und Aufrüttelndes zu verwandeln. Unter die verzweifelten und zornigen Stimmen der Flüchtigen mischen sich auch die gehässigen Angriffe derer, die keine Fremden im Land wollen.
Elfriede Jelinek hat mit der Tochter von Boris Jelzin und Anna Netrebkow auch zwei Beispiele für unproblematische Einbürgerungen benannt. Tatyana Yumaschewa hat sich die österreichische Staatsbürgerschaft erkauft, und Anna Netrebkow hat sie sich ersungen.
Michael Thalheimer lässt, stellvertretend für den Opernstar, eine Sängerin auftreten. Sie ist schwarz gekleidet wie die Flüchtenden, aber ihre Robe ist prunkvoll mit einer Schleppe, die sie über die ganze Bühnenbreite hinter sich her zieht, und sie erscheint ganz vorn an der Rampe, wo der Boden nicht unter Wasser steht. Mit wunderschöner Stimme singt sie Händels bewegende Arie „Lascia ch’io pianga“, in der die Ängste und die Verzweiflung zum Ausdruck kommen, die auch die Flüchtenden empfinden.
Aber die Sängerin ist keine Stimme für die Schutzbefohlenen. Denen legt Elfriede Jelinek neidische Formulierungen in den Mund, so als wäre ihnen schon geholfen, wenn der Promibonus abgeschafft und auch Anna Netrebkow die Einbürgerung verweigert worden wäre.
Am Schluss der Arie überlege ich einen Augenblick lang, ob ich applaudieren sollte, was selbstverständlich genau das ist, was das Publikum an dieser Stelle nicht tun darf und was auch gehorsam niemand tut, weil die Sängerin stellvertretend für Anna Netrebkow auftritt, die ganz sicher keinen Applaus dafür verdient, dass sie, nur um müheloser reisen zu können, ganz einfach einen österreichischen Pass bekommen hat, der für die Asylsuchenden lebensrettend wäre.
Nicolas Stemann hat in seiner Inszenierung des Stücks die Frage gestellt, ob es überhaupt möglich sei, die Leiden der Flüchtenden darzustellen und ob es nicht vermessen sei, deutsche SchauspielerInnen für sie sprechen zu lassen, und er hat auch Betroffene auftreten lassen.
Dabei drängt sich die Frage auf, ob die eigentliche Vermessenheit nicht bei der Autorin liegt, die zu Hause an ihrem Computer recherchiert und dann ihr Entsetzen und ihren Zorn den ihr unbekannten Menschen in den Mund gelegt und sie zu einer aggressiven Horde gemacht hat die, wenn wir sie uns nicht vom Halse hielten, sich fürchterlich rächen würde, nicht nur für die Ungerechtigkeiten, die ihr bei uns widerfahren sind, sondern auch für die Ausbeutungspolitik und die Waffenlieferungen der europäischen Länder.
In Michael Thalheimers Inszenierung sind die unterschiedlichen Stimmen sehr deutlich voneinander abgesetzt. Neben den Flüchtenden mit ihrem Schmerz und ihrer ohnmächtigen Wut und den Hasserfüllten, von denen die Asylsuchenden bedroht werden, ist immer wieder auch die Stimme der Autorin zu hören, die mit ihrem Land und mit Europa abrechnet.
Es ist eine Publikumsbeschimpfung, die Thalheimer inszeniert hat, aber die Flüchtenden stehen uns nicht bedrohlich gegenüber. Wir alle, die Privilegierten im Zuschauerraum, bekommen einen Spiegel vorgehalten, in dem wir die ungeheuerlichen Grausamkeiten erkennen, die in unserem Namen und zu unserem Vorteil an schutzlosen Menschen verübt werden. Wir sind diejenigen, vor denen wir uns fürchten müssen.