Als Eric Kandel dies auf Seite 21 seines Buches „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“, 2006 in Amerika und in Deutschland (Siedler Verlag) erschienen, aufschrieb, war er schon der berühmte Hirnforscher geworden, der wegen seiner Erkenntnisse und Entdeckungen im Bereich des Kurz- und des Langzeitgedächtnisses im Jahr 2000 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin erhalten hatte. Er, der gefeierte Wissenschaftler hatte es nicht nötig, der Gesellschaft für seine lebenslangen Gedächtnisforschungen irgendwelche Legitimationen vorzulegen, wohl aber sich selbst. Denn dies Buch ist ein Erforschen dessen, was – vom Ausgangspunkt des Erfolges her rückwärts – in seinem Leben passiert war und was er selbst aktiv in Gang setzte, um an diesem Punkt anzukommen. Als wir vor Jahren mit tiefer Bewegung und unglaublichem Lernzuwachs über die Leistungen unseres Gehirn, die er minutiös und auch allgemein verständlich erklärt, seine Autobiographie, die persönliche Ereignisse mit den beruflichen mischt, lasen, da trauten wir uns wegen der wissenschaftlichen Ausführungen eine Rezension des Buches nicht zu, das doch eigentlich schlicht vom Erinnern und Vergessen handelt.
Zwar haben wir die Literatur zur Hinforschung verfolgt: die vielen Aufsätze von Wolf Singer und seine Bücher bei Suhrkamp, Michael Pauen, Illusion Freiheit? (Fischer Verlag 2004), Johann Caspar Rüegg, Gehirn, Psyche und Körper (Schattauer 2001), Michael Hagner, Zur Geschichte der Elitehirnforschung (Wallstein Verlag 2005), Peter Düweke, Kleine Geschichte der Hirnforschung (Beck’sche Reihe2001), Donald D. Hoffman, Visuelle Intelligenz. Wie die Welt im Kopf entsteht (Verlag Klett-Cotta 2001), Brian Burrell, Im Museum der Gehirne (Hoffmann und Campe 2005)), Roland Geisselhart, Gedächtnis ohne Grenzen (Oesch Verlag 2001), Ole Vedfelt, Bewußtsein. Grundlagen, Theorien, Entwicklungen (Patmos Verlag 2000), Jürgen Bredenkamp, Lernen. Erinnern. Vergessen (Beck’sche Reihe 1998), aber solche Anwendungsbücher wie Joachim Bauer, Warum ich fühle, was Du fühlst (Hoffmann und Campe 2006) oder das von Johannes Fried im Jahr 2004 bei Beck erschienene „Vom Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik“, das wunderbar und schmerzlich uns beweist, wie sehr das Gedächtnis trügt und was es mit angeblichen historischen Wahrheiten auf sich hat, und die vielen psychoanalytischen Aufsätze lagen uns dann doch näher.
Erst der gerade angelaufene Film von Petra Seegers mit dem analogen Titel „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“, den wir in der Pressevorführung sahen, machte uns frei davon zu glauben, daß man Naturwissenschaftler sein müsse, um über dieses phänomenale Buch von Eric Kandel „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“ auch schreiben zu dürfen. Zwar ist es richtig, daß man sich auf vielen Seiten ganz schön herumquält mit „Cajals vier Prinzipien der neuronalen Organisation“ auf Seite 80 oder den drei Arten impliziten Lernens bei Tieren: Habituation, Sensitivierung und klassische Konditionierung auf Seite 187, erst recht mit den neuen Proteinen, geschickt an alle Synapsen, von denen aber nur die Synapsen neue Axonendigungen ausbilden, die mit Serotonin stimuliert wurden, und somit zwei Mechanismen der Langzeitveränderung stattfinden auf Seite 295 – und die aufgeführten Beispiele sind alle auch im Bild erklärt, was die Sache erleichtert – aber schon so etwas wie die Darstellung des Zentralnervensystems und die Hauptregionen des Gehirn auf der Seite 62 muß Allgemeinbildung sein und tatsächlich schält sich nach dem Lesen des Buches auch heraus, was von den wissenschaftlichen Erkenntnissen im eigenen Gedächtnis verblieb, an was man sich noch erinnern und nicht nur erinnern, sondern es auch verständlich wiedergeben konnte, so daß es nach dem Lesen nahelag, ein eigenes Büchlein zu schreiben: „Auf der Suche nach der Erinnerung dessen im eigenen Gedächtnis, was Eric Kandel bei der Suche nach seinem Gedächtnis herausgefunden hatte.“ Zumal Kandel ja den Untertitel wählte „Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes“ und nicht „Wie ein gerettetes Judenkind in Amerika überlebte und sogar den Nobelpreis gewann.“ Aber gerade letzteres war für uns die Motivation zum Lesen.
Der Film hat uns von unseren eigenen Bedenkungen uns gegenüber frei gemacht. Heute meinen wir, daß die entsprechenden Wissenschaftler das Buch eh gelesen haben und daß wir jetzt dazu beitragen sollten, daß es auch alle anderen in die Hand nehmen. Denn das, was so viele an dem Film der Petra Seeger über die Person Eric Kandel begeistert, das findet sich genauso im Buch: die klare Sprache, das umfassende Denken, und das gelebte Leben des Autors, der davon ausgeht, daß auch das Private politisch ist und daraus Kraft schöpft und nach vorne blickt mit Mut und Zuversicht und aus einer sich immer wieder leicht selbst ironisierenden Position heraus, die so Wienerisch einerseits ist wie Woody-Allen-New-Yorker-Jude-Sein andererseits – mit dem großen Unterschied, daß Eric Kandel weder ein Weaner Grantler noch ein ins dunkle Selbst verliebter Neurotiker ist. Aber es ist ihm auch – das durchläuft dieses Buch parallel- völlig fremd, dieses grausliche verordnete Verhaltensmuster „think positiv“ vor sich her zu tragen. Er tut es einfach.
Das Buch transportiert nebenbei auch viel über die Zwistigkeiten, die Psychoanalyse und neuronale Wissenschaft miteinander austragen, dagegen die Zuversicht des Autors, daß er das vollende, was der Arzt und Naturwissenschaftler Sigmund Freud in Gang gesetzt habe und die zwei Stränge, die sich mit menschlichen Gehirn und daraus abgeleiteten Verhalten beschäftigen, in einen großen Strom münden könnten. Auf den Seiten ab 55 schreibt er auch eine kleine Geschichte der Psychoanalyse und seine tiefe Vertrautheit mit den Dichtern, die die Erkenntnisse von Freud schon vorher oder gleichzeitig in ihren Werken literarisch werden ließen: Arthur Schnitzler, Franz Kafka, Thomas Mann, er hätte insbesondere noch Strindberg hinzufügen können. „Selbst neben diesen eindrucksvollen literarischen Zeugnissen konnte Freuds Prosa bestehen. Sein Deutsch – für das er 1930 den Goethepreis erhalten hatte – war einfach, wundervoll klar, humorvoll und unendlich selbstreferentiell. Das Buch hatte mir eine neue Welt eröffnet.“ Seite 55. Das stimmt. Denn Freud war selber ein Dichter. Das Buch zeigt in den 30 Kapiteln auch einen beglückenden Lebensverlauf, mit vielen privaten Details, auf die wir hier nicht eingehen können, die aber deutlich machen, woher sich seine Kraft, seine Energien immer wieder speisen.
Wir haben einen kleinen Vorbehalt zu der Übersetzung, die makellos ist. Eben. Hört man das gesprochene Wienerisch des Autors, so kann man beim Wiederlesen das formal und formell korrekte Deutsch des Buches nicht mit dem Ton des Autors verbinden. Wenn es weiter nichts ist. Denn dieses Buch ist ein Wissensbuch, ein Geschichtsbuch, eines über Europa und die USA, ein persönliches Dokument vom Vertreiben und dem Aufbau einer neuen Existenz und vor allem ein Fanal, sich in sein eigenes Gehirn und Gedächtnis zu begeben und das herauszukramen, was man allzu gerne vergessen möchte, aber nicht vergessen sollte, will man klüger geworden, im Reinen mit sich weiter leben. Vergessen dagegen sollte man – auch das lehrt das Buch –, alles was an Kränkungen einem zugefügt wurde, als aktiven Vergessensprozeß. Und das ist das einzige, was wir der Aussage des Eric Kandel zufügen mögen, wenn er auf Seite 26 betont: „Das, was wir lernen und woran wir uns erinnern, macht uns zu dem, der wir sind.“ Aber lesen Sie selbst.
Buch: Eric Kandel, Auf der Suche nach dem Gedächtnis, Siedler Verlag München 2006, Verlagsgruppe Random House
Film: Auf der Such nach dem Gedächtnis, Kinostart: 25. Juni 2009, Regie und Drehbuch: Petra Seeger, Kamera: Robert Winkler, Verleih: W-Film