Schtschelkuntschik und Valse des flocons de neige – Nussknacker und Schneeflockentanz standen im Mittelpunkt des 2. Familienkonzerts der Berliner Philharmoniker

Hornistin Sarah Willis und die philharmonische Bläsergruppe beim Familienkonzert am Samstag, 11.12.2010, in der Berliner Philharmonie. Foto: Emile Holba, Aufnahme: Berlin, 26.10.2016

Dies hatte ihnen die Bläsergruppe der Berliner Philharmoniker mit einer Einladung zum 2. Familienkonzert beschert. Zusatzgeschenk: freier Eintritt für Kinder unter 12 Jahren, für alle anderen Besucher Karten zum Einheitspreis von 8 Euro. Ergebnis: ein ausverkauftes Haus. 

Das ist Sarah Willis, die einzige Frau, die im Orchester ins Horn stößt, natürlich gewöhnt. Und so begrüßt sie selbstbewußt wie eine professionelle Moderatorin das erwartungsfrohe Publikum und stellt charmant ihre 9 Kollegen vor. Die entlocken ihren Instrumenten schon einmal ein paar lustige Triller beziehungsweise ein grummeliges Schrummschrumm. Denn damit es ein eine »Harmoniemusik« wird, darf ausnahmsweise auch ein Kontrabassist mitmachen. Michael Hasel schwenkt die Flöte, das heißt: los gehts. Und ganz ohne »echten«  Dirigenten finden alle den richtigen Ton und Takt. Passend zur Jahreszeit wird  – selbstverständlich – die Nussknacker-Suite gespielt, in der Fassung für Bläseroktett plus Flöte und Kontrabass.

Eine Suite ist – wie Sarah Willis nicht von einem Blatt abliest, sondern in klaren, auch für Kinder verständlichen Sätzen erzählt,  – die verkürzte Fassung eines umfangreichen Balletts oder einer Oper. Sozusagen eine Abfolge der Highlights. Sie konnte zu einer Zeit, als die Musik noch nicht aus dem Player kam und gedowndladed wurde, auch bei Gelegenheiten gespielt werden, wo das Geld für ein großes Orchester, eine Balletttruppe, Kulissen  und das ganze Drum und Dran nicht gereicht hat. Und die Nussknacker-Suite ist eine der bekanntesten. Die Geschichte von der kleinen Klara  – Frau Willis erzählt sie doch schnell noch einmal – die mit dem Nußknacker, der in einen Prinzen verwandelt wurde, ins Land der Zuckerfee reist, wo mit Gästen aus aller Herrn Länder ein rauschendes Fest gefeiert wird, hat sich der Dichter E.T.A. Hoffmann ausgedacht. Der Komponist Peter Tschaikowsky wusste die märchenhafte Geschichte vom Schtchelkuntchik – dieser Zungenbrecher ist die russische Bezeichnung für einen Nussknacker  – zum Klingen zu bringen. Viele seiner wunderschönen Melodien sind noch heute ein Hit.

Das demonstrierten die Zuschauer schon bei den ersten Tonfolgen: beim Marsch, der ganz leise von den Klarinetten, Trompeten und Hörnern gespielt wird, und beim witzigen Tanz der Rohrflöten. Sogar würdige Männer inmitten der Familien mit sogenanntem Migrationshintergrund, die ganze Sitzreihen füllen, wiegen die Köpfe im Takt. Leicht amüsiert  verfolgen sie nach den Spanischen und dem Chinesischen den Arabischen Tanz. Beim Schneeflockentanz steigern sich die Bewegungen im Saal. Fotoapparate und Kameras werden in Anschlag gebracht. Zur Projektion eines sanften Schneegeriesels wehen aus allen Ecken des Saales zweibeinige Schneeflöckchen auf die Bühne: kleine, größere und große Kinder, Mädchen und Jungen, zierliche Gestalten und schwergewichtigere. Die einen bewegen sich elegant,  andere ein wenig ungelenk. Sie werfen die Arme mal nach rechts, mal nach links, nach oben, nach unten und beugen sich in alle Richtungen, versuchen schwebende Schritte. 

Das hatten sie in vielen Stunden mit Volker Eisenach und seiner Assistentin Anja Meser geübt. Beide sind Choreographen, also Leute, die Geschichten mit Bewegungen erzählen wollen. »Tanzen ist Musik sichtbar machen«, hatte Volker erklärt. Und genau das versuchten die Schülerinnen und Schüler der Hannah-Höchst-Grundschule in Berlin-Reinickendorf.  Eine Gegend, in der viele Migrantenfamilien wohnen. Allen und besonders den etwa 80 Kindern zwischen 5 und 12 Jahren hat es ungeheuren Spaß gemacht. Mitmachen durfte, wer Lust hatte. Sogar sein Kostüm konnte jeder selber gestalten. Einzige Bedingung: weiß  sollte es sein und Platz haben für ein paar Glitzersterne. Nicht »Kunst« war das Ziel, sondern es sollte Interesse für Bewegung, für Musik und – ja, und warum nicht? – auch für die Philharmonie geweckt werden. Zu erleben waren begeisterte Kinder, die während des gesamten Konzerts auf der Bühne präsent blieben, auch wenn sie einfach nur dasaßen, sich auch mal »schlafen legten« oder mit ihrer Körpersprache die  Musiker begleiteten. Und die Fotoapparate der Eltern, Geschwister, Onkel und Tanten sämtlicher im Publikum vertretenen Nationen hielten alles fest für die Verwandten in aller Welt.

Zum Abschluss des Spektakels wird noch ein Ohrwurm gespielt: der Blumenwalzer. Spätestens jetzt fühlt sich auch der allerletzte Besucher in die Zauberwelt versetzt und probiert auf dem Nachhauseweg  ein paar Tanzschritte.

Das von Sarah Willis angeregte Familienkonzert, das dritte, das sie moderiert hat, war ein Erfolg. Es wird nicht das letzte bleiben. Willis und ihre Bläserkollegen arbeiten gern mit dem Education-Team und wissen um die Bedeutung der Arbeit mit Kindern. 

Solange über den Bildungserfolg  junger Menschen nicht seine Begabung, sondern seine Herkunft eine große Rolle spielt, leistet das Education-Programm der Berliner Philharmoniker einen Beitrag zu mehr Chancengleichheit. Gerechtigkeit schafft solch Leuchtturmprojekt jedoch nicht.  Die Berliner Symphoniker, die jahrelang mit Schulklassen gearbeitet und Familienkonzerte veranstaltet hatten, können das nicht fortsetzen, weil ihnen der Senat die Haushaltsmittel gestrichen hat und sie ihr Geld im Ausland verdienen müssen. Die Lücke können die anderen Orchester nicht schließen. Auch ihre  Kinderprogramme sind ständig von finanziellen Kürzungen bedroht. Die Familien, die in die Philharmonie kommen, sind begeistert. Die nicht mehr kommen (können), sieht man nicht. Die Gutscheine, die Frau von der Leyen verteilen will, werden das  nicht ändern.

* * *

Das 2. Familienkonzert der Berliner Philharmoniker wurde von der  Digital Concert Hall übertragen.  

www.digital-concert-hall.com

Empfohlen sei auch das gerade erschienene Buch: »Wirbelwind und Saitentanz – Musikalische Expeditionen mit den Berliner Philharmonikern«.Geschrieben haben es Margarete Zander und John Harrison.  Beigelegt sind 3 DVDs. 24,95 €

Vorheriger ArtikelKölns Oberbürgermeister besucht die Partnerstädte Bethlehem und Tel Aviv
Nächster ArtikelAutonomiebehörde wendet sich in Sachen Anerkennung Palästinas an EU-Länder