Die Fliege Autor ist und bleibt die wichtigste. Er erhält für ein Jahr ein eigenes Haus, das Stadtschreiberhaus. Das liegt „An der Oberpforte 4“ – aufgepaßt Bergen-Enkheimer, endlich einmal vorbeischauen und sich das Haus und die Institution des Stadtschreibers merken! – und ist putzig klein, geradezu niedlich. Dieses Haus, das mit allen Nebenkosten also frei zu bewohnen ist, wird zusätzlich mit einem Preisgeld von derzeit 20 000 Euro aufgepeppt. Klingt doch nicht schlecht und ausdrücklich wird für den ausgewählten Stadtschreiber oder die Stadtschreiberin keinerlei Auflage gemacht, was die Anwesenheit oder sonstige Verpflichtungen im Ort bedingt. Bis auf die eine, zur Überlassung des Schlüssels und Preisvergabe in Bergen Enkheim anwesend zu sein und nach einem Jahr den Schlüssel ordentlich an den nächsten Stadtschreiber zu übergeben. Na, ja, eine Rede erwartet man dann auch noch.
Die bisherigen Stadtschreiber, der erste war Wolfgang Koeppen, den Marcel Reich Ranicki auslobte, Peter Rühmkorf, von Walter Jens gepriesen, Peter Bichsel, von Max Frisch im Festzelt in Bergen vorgestellt, Jurek Becker, der so früh starb und den Adolf Muschg in seiner intellektuellen Brillanz würdigte. Ach, wir können nicht alle diese Namen aufzählen, die literarische Leuchttürme der alten Bundesrepublik waren, und die in ihrer Namensaufreihung einem tatsächlich einen Poesieschauer über den Rücken laufen lassen und damit auch feststellen: Die Bergener haben sich schon die Creme der Literatur ins Stadtschreiberhaus geholt. Aber so richtig einordnen könnte man diesen Literaturpreis erst dann, wenn man untersuchte, wer von den literarischen Größen fehlte. Das wollen wir nicht tun, uns stattdessen an den Preisträgern freuen und nur einige kleine Bemerkungen loswerden.
Auffällig ist, daß unter den 36 Festrednern, die den neugewählten Stadtschreiber am Festabend in einem großen Zelt inmitten eines längst zum mehrtägigen Volksfest gewordenen Rummels, des ’Berger Marktes`, der Öffentlichkeit vorstellen, nur drei Frauen waren, Eva Demski, die 1988/89 selbst Stadtschreiberin war, hielt die Laudatio für Arnold Stadler, der 1998/99 dieses Amt ausführte, und Hildegard Hamm Brücher stellte 1992/93 als erste Rednerin Ralf Rothmann vor. Dann hielt im Vorjahr Juli Zeh, die noch keine Preisträgerin ist, die Rede auf Friedrich Christian Delius, der nun den Schlüssel an den in Berlin lebenden Ulrich Peltzer übergab.
Von den insgesamt 36 Preisträgerinnen gab es immerhin acht weibliche Autoren, wenngleich bei der Liste schon auffällt, daß die Jahre 1987 bis 1990 mit Ulla Hahn, Eva Demski und Katja Lange-Müller gleich drei Preisträgerinnen hintereinanderbrachten, aber die letzen 20 Jahre sowohl nur drei Frauen verzeichnet, wie auch wenig Bezug zum Osten unserer Republik! Der Blick in die Schweiz dagegen ist schon fast konstitutiv für den Stadtschreiberpreis.
Die oben erwähnte Fliege Lesen ist beim Stadtschreiberpreis auch mitgemeint. Denn einmal wird der gewählte Preisträger in der Berger Bücherstube genauso wie in den Frankfurter Buchhandlungen mit seinen Werken breit ausgelegt, was sinnvoll und motivierend ist und auch den jeweiligen Verlagen gut tut, und dann freut man sich in Bergen, wenn der Stadtschreiber sich ihnen in Lesungen das Jahr hindurch präsentiert, wobei die Antrittslesung diesen Reigen eröffnet.
Sicher werden die Bergen-Enkheimer schnell merken, daß Ulrich Peltzer gerne dorthin kommt und daß er wach das Geschehen verfolgt, sei es in Berlin oder hierzulande, wobei er sich bei einer Pressekonferenz im renommierten Frankfurter Literaturhaus, wo ihn Kulturdezernent Felix Semmelroth zusammen mit der Kulturgesellschaft Bergen-Enkheim vorstellte, durchaus beliebt machte mit seiner launigen Emphase für Frankfurt als echter Metropole. Er ist Fachmann, denn er hat am Drehbuch zum Spielfilm „Unter Dir die Stadt“ mit Regisseur Christoph Hochhäusler mitgewirkt, der in Frankfurt gedreht wurde, weswegen er zwei Jahre häufig hier weilte. Uns erzählte er seine persönliche Auswahlkriterien für lebenswerte Städte: ein Blick auf die Speisekarten und die Immobilienanzeigen! Und da hat Frankfurt bestanden?
Peltzer selber ist 1956 in Krefeld geboren und lebt seit 34 Jahren in Berlin. 1987 kam sein erster Roman „Die Sünden der Faulheit“ heraus, der wie drei weitere Romane in Berlin spielt und sein letzter Roman „Teil der Lösung“ war der erste, den wir von ihm – sehr gerne – lasen, wobei er mit „Bryant Park“ seinen geschichtsträchtigen Aufenthalt in New York verarbeitet. Liest man so kurz hintereinander mehrere seiner Bücher, fällt als Eigenheit auf, daß er nicht so sehr äußere Handlungsfolgen beschreibt, sondern sich die Geschichten aus den Reflexionen im Hirn seines literarischen Personals ergeben. Es geht also viel um Gedanken und Gefühle und diejenigen, die da denken, reflektieren, eine Meinung äußern, ihre Leben stets ändern wollen und die Gesellschaft auch, die entstammen einer akademischen Schicht, Leute, die sich nicht in festen und materiell abgesicherten Lebensverhältnissen eingerichtet haben, sondern mit fragenden, mal klugen, mal banalen Gedanken frei im Raum schweben. Was ungenau ausgedrückt ist, denn es ist sehr diesseitig, worüber und wovon Ulrich Peltzer seine Personen räsonieren läßt. Das gilt auch für „Alle oder Keiner“, 1999 erschienen und jetzt muß man einfach über seinen Verlag, den Ammann Verlag in Zürich schreiben.
Es gibt Koinzidenzen, die kann man gar nicht erfinden, die passieren einfach. Eine solche ist das Zusammentreffen des Preises für den Verlagsautor wie das Ende des Ammann Verlages, das das ehrenwerte Verlegerpaar aus der Schweiz logisch und psychologisch gleichermaßen für diesen Herbst angekündigt haben. Sie können also mit der Preisvergabe an einen ihrer Autoren Abschied nehmen und Ulrich Peltzer wird zum Fischer Verlag wechseln, wohin wohl die meisten Ammannautoren gehen werden, weil eine enge Kooperation bestand.
Bei der Preisverleihung am 28. August in Bergen ging Laudator Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung vor allem auf die politische Konsequenz Peltzers letzten Buches, „Teil der Lösung“ ein, die es erforderliche mache, als Bürger noch wachsamer als zuvor zu werden, bzw. überhaupt erst wachsam zu werden. Ulrich Peltzer dagegen gab Gedanken beim Verfertigen einer Rede preis, die er an Malapartes Roman von 1947 „Die Haut“ – ein tolles Buch, dringend wieder lesen! – entwickelt, oder doch eher an dessen so schöner Villa auf Capri, die durch die Filmaufnahmen für Godards „Die Verachtung“ ins Auge fiel. Dazu hatte Peltzer für die DVD Version einen Klappentext geschrieben, den er vortrug, sich also selbst zitierte: „Kunst sagen, aber Ware meinen, und von Liebe reden, obwohl man lediglich ein finanzielles oder sexuelles Interesse verfolgt, sind die Seiten ein- und derselben Münze, die sich bis heute ihre Kaufkraft bewahrt hat. Wie es Godard gelingt, dafür Bilder zu finden, ohne sich der verranzten Dramaturgie eines Plots zu unterwerfen, mit welcher Leichtigkeit er Texte von Dante und Hölderlin in die Szenen schmuggelt, macht seine ’Verachtung` zu einem der schönste Filme, die je gedreht worden sind – ein einziges Versprechen darauf, daß es einmal eine Welt geben könnte, in der Träume so real sind wie das Leben, und das Leben ein für alle Realität gewordener Traum“. Eine auf das eigene Tun bezogene Ansprache, mit der er sich als Autor, aber auch als Mensch Ulrich Peltzer den Bergen-Enkheimern vorstellte. Man hatte den Eindruck, daß da noch einiges zu erwarten ist.
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Am 8. September 2009 um 20 Uhr in der Nikolauskapelle in Bergen Antrittslesung von Ulrich Peltzer
Am 28. Oktober 2009 um 20 Uhr in der Nikolauskapelle in Bergen Lesung von Reinhard Jirgl, Stadtschreiber 2007/2008 aus seinem Buch „Die Stille“ im Hanser Verlag
Aus dem Amman Verlag sind von Ulrich Peltzer lieferbar:
Alle oder Keiner, 1999
Bryant Park, 2002
Teil der Lösung, 2007
Als Taschenbuch lieferbar im Berlin Verlag
Bryant Park, 2004