„Rund um uns wütet der Sturm”¦“

Rund um uns toben viele Stürme. In Syrien reißt ein schrecklicher Bürgerkrieg das Land auseinander. In Ägypten ist das Land nach dem Sieg des Arabischen Frühlings noch immer im Aufruhr. Der libanesische Staat ist immer noch unfähig, seine Autorität bei bewaffneten Gruppierungen durchzusetzen, und dasselbe gilt für den Irak. Der Iran ist eifrig damit beschäftigt, seine Atombombe zu bauen, während er finstere Drohungen ausstößt.

Israel sieht sich selbst als Insel im stürmischen Meer, von allen Seiten bedroht, jede Minute bereit, einem Tsunami ausgesetzt zu sein.

Über all diesem liegt etwas Ironisches.

Das zionistische Abenteuer begann mit dem Versprechen, für die Juden nach Jahrhunderten der Hilflosigkeit eine sichere Zufluchtsstätte zu schaffen.

Tatsächlich war dies – von aller ideologischen Dekoration befreit – das zentrale Thema des Bemühens. Überall waren Juden wehrlos und von der Gnade anderer abhängig. Hier im eigenen Staat wären wir in der Lage – mit erhobenem Haupt – uns selbst zu verteidigen.

Mit andern Worten: Eine Ewigkeit lang waren wir das Objekt der Geschichte; jetzt haben wir unser Schicksal in die eigenen Hände genommen, ein Schauspieler auf der Bühne der Geschichte, eine Nation unter anderen Nationen.

Davor waren wir Juden eine Art ethnisch-religiöse Entität. Mit dem Zionismus stellten sich die Juden – oder ein Teil von ihnen – als eine moderne Nation dar, die sich gegen jeden Feind selbst verteidigen kann.

In diesem Sinn war der Zionismus tatsächlich ein voller Erfolg. Seine Schöpfung, der Staat Israel, ist jetzt stark und sicher.

Oder? Wenn man vielen unserer Führer zuhört, scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Vor Jahren behauptete Professor Jeshajahu Leibowitz, der bissige Kritiker des zionistischen Establishments, Israel sei der einzige Ort in der Welt, wo das Leben der Juden in tödlicher Gefahr sei. Wie sich herausstellte, hatte er nicht ganz recht.

Vor ein paar Tagen – am Holocausttag – erklärte unser Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, wir würden von einem zweiten Holocaust bedroht, der von einem nuklear bewaffneten Iran ausgeführt werden könnte.

Am nächsten Tag erklärte eine Gruppe internationaler Hacker, von pro-palästinensischen Gefühlen angeregt, einen Cyber-Krieg gegen Israel. Sie versprachen, die Hauptinstitutionen des Landes, die militärischen und die zivilen, die privaten und die der Regierung, lahm zu legen. Wie sich herausstellte, ist der Angriff elendiglich fehlgeschlagen. Es wurde kein bedeutsamer Schaden angerichtet. Aber bevor dieses klar wurde, antwortete der frühere Außenminister Avigdor Lieberman und verglich die Kampagne mit dem Nazi-Holocaust.

Was ist das? Verfolgungswahn? Manipulationen? Ein politischer Trick? All dies oder mehr?

Im Zeitraum von neun Tagen erlebt Israel drei nationale Ereignisse. Jedes Mal heulen die Sirenen, offizielle Feierlichkeiten und endlose Reden werden gehalten. Alle Fernseh-Kanäle, das Radio und die gedruckten Medien widmen sich vollkommen dem Thema des Tages.

Der letzte Montag war Holocausttag. Das ganze Land gedachte des entsetzlichsten Kapitels der Geschichte. Um 10 Uhr, beim Heulen der Sirenen, kam das ganze Land zum Stillstand. Die Autos hielten mitten auf der Straße, Männer, Frauen und Kinder stiegen aus und standen in Hab-acht-Stellung. Noch lebende Überlebende – meistens über 80 – erzählten ihre schrecklichen Geschichten, Zuhörer weinten.

In Yad Vashem hielt Netanjahu seine Standardrede – Nie wieder ”¦ Wir werden nicht ”¦ die iranische Bombe ”¦ zweiter Holocaust ”¦

Morgen Abend wird der Gedenktag für die gefallenen Soldaten sein. Das Land wird der vielen Tausende gedenken, die in Israels zahlreichen Kriegen gefallen sind. Trauernde Eltern werden Blumen auf die Gräber ihrer Lieben legen. Politiker werden Reden halten über das Leben, das in heldenhafterweise für die Nation gegeben wurde, damit ein zweiter Holocaust verhindert würde.

Der nächste Tag wird ein Tag der Freude sein. Ohne Unterbrechung werden die Sirenen das Ende des Gedenktages ankündigen und den Beginn des Unabhängigkeitstages. Reden über die Opfer der Gefallenen werden abgelöst von Reden über den Ruhm und die Errungenschaften des Staates, der sich wie ein Wunder aus der Asche des Holocaust erhob. Im Mittelpunkt der Festlichkeiten steht die israelische Armee, eine der stärksten und leistungsfähigsten in der Welt.

Die Nähe dieser drei Daten ist nicht zufällig. Es ist ein bewusster Versuch, Generationen von Israelis mit der Idee zu durchdringen, dass Israel unter ständiger Bedrohung ist, wie die jüdischen Gemeinden in Europa während Jahrhunderten und dass unsere Armee der einzige Garant für unsere nationale und selbst die individuelle Sicherheit ist.

Viele Leute sehen dies als Manipulation an – die es tatsächlich ist. Unter Netanjahu erreicht dies neue Höhen bzw. Tiefen. Die jüdische Opferrolle wird wie eine Flagge geschwenkt, die unsere ganze Politik rechtfertigt: die Besatzung, die Siedlungen, die Unterdrückung der Palästinenser, die Zurückweisung eines Friedens, der sich praktisch auf die Zwei-Staatenlösung gründet.

Es ist auch ein politischer Trick. Die ständige Erinnerung an die existentiellen Gefahren – im Iran, in Syrien, in Ägypten und sonst wo – sind dafür bestimmt, die Bevölkerung um die Führung zu scharen. Bei der letzten Wahlkampagne präsentierte sich Netanjahu selbst als ein „starker Führer für einen starken Staat“. Macht nichts, dass er tatsächlich ein Schwächling ist, dafür bekannt, sich unter ausländischem und internem Druck zu unterwerfen. Panikmache ist seine wirksamste Waffe.

Doch wäre es ein großer Fehler, israelische Ängste als unecht abzutun, als wären sie künstlich erzeugt. Sie sind ganz real.

Ausländer sind oft verwundert, wie Israelis im selben Satz – buchstäblich im selben Atemzug -behaupten, „Israel ist eine regionale Macht“, und wir werden nicht „wie Lämmer zur Schlachtbank gehen“, wie Juden (von Israelis behauptet)im Holocaust gegangen seien. Beides ist real. Beides lebt nebeneiander im Geist der meisten Israelis.

Keiner, der während des Holocausttages in Israel gewesen ist, kann den leichtesten Zweifel über den riesigen Einfluss haben, den der Holocaust weiterhin auf uns ausübt. Die meisten von uns (mich eingeschlossen) haben Verwandte, die in der Shoa umgekommen sind. Das tiefe Gefühl für die Opferrolle, die Ängste und Befürchtungen liegen tief in uns. Es ist fast unmöglich, sie in wenigen Jahren zu überwinden.

Doch müssen wir sie überwinden, weil sie keine Beziehung zur jetzigen Realität haben und uns daran hindern, uns rational zu verhalten.

Tatsache ist, dass Israel ein starker Staat ist und dies so noch lange Zeit bleiben wird.

Wir haben ein sehr starkes und effizientes Militär, mehr als ausreichend, um jeder voraussehbaren Bedrohung entgegenzutreten. Der arabische Frühling hat wenigstens vorübergehend mehrere militärische Bedrohungen beiseitegeschoben. Das stimmt auch für die reale oder eingebildete nukleare Bedrohung aus dem Iran. Kein iranischer Führer wird je die totale Zerstörung seines Landes mit seiner Jahrtausende alten Zivilisation riskieren, um uns Ärmste zu zerstören.

Aber ein starkes Militär ist nur eine Komponente von Sicherheit. Es gibt noch viele andere.

In 65 Jahren haben wir eine solide und starke Wirtschaft aufgebaut, die viel stabiler ist als viele größere und stärkere ökonomische Mächte in aller Welt. Auf verschiedenen Gebieten wie der High-Tech, den Naturwissenschaften, in der Medizin, der Landwirtschaft und den Künsten gehören wir zu der ersten Weltliga. Israels intime Beziehungen mit der Nummer-Eins-Weltmacht scheinen für lange Zeit sicher zu sein und uns auf vielen Gebieten riesige Vorteile zu bringen, selbst bei langsamem Rückgang der US-Macht.

Die wiederbelebte hebräische Sprache ist dynamisch und fest etabliert. Die israelische Demokratie, wenn auch unter ständiger Bedrohung, scheint in der Lage zu sein, dem Angriff widerstehen zu können. Wir können sicher stolz sein auf das, was unsere Gesellschaft erreicht hat – praktisch aus dem Nichts.

Die einzigen wirklichen Gefahren, denen Israel gegenübersteht, kommen von innen. Wahnsinnige Politik, die fortgesetzte Besatzung, der ständige Krieg, das Vordringen der fundamentalistischen Religion – dies sind die realen Ursachen, über die man sich Sorgen machen muss.

Ich mache darauf aufmerksam, nicht um Triumphgefühle zu schüren, sondern im Gegenteil.

In Israel ist es die Rechte, die bei Ängsten und ständigen Erfindungen neuer Bedrohungen prächtig gedeiht, um sich dem Frieden zu verweigern und das Gefühl „ die ganze Welt ist gegen uns“ hochkommen zu lassen. Sie stellen unsern Staat wie ein noch belagertes Ghetto dar, das einer ewigen Gefahr der Vernichtung entgegensieht.

Das israelische Friedenslager muss entschlossen gegen dieses Weltbild aufstehen. Israel ist stark und, weil es stark ist, kann es auch Risiken auf sich nehmen und Frieden mit dem palästinensischen Volk und der ganzen arabischen und muslimischen Welt schließen.

Vor 65 Jahren, als wir eine Bevölkerung von kaum 650 000 waren, hatte meine Generation dieses Selbstvertrauen. Unsere Häupter waren erhoben. Wir müssen dieses Selbstvertrauen jetzt wieder entdecken.

Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Die Erstveröffentlichung erfolgt unter www.uri-averny.de am 13.04.2013. Alle Rechte beim Autor.

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