London, UK (Weltexpress). Ist es ein Zufall? Kaum war Brexit dank Premier Boris Johnson auf Schiene, brach die Corona-Krise aus. Und „BJ“, der Sunny Boy der britischen Politik, strauchelte mitsamt seiner notorisch unfähigen Mannschaft über die globale Pandemie, welche selbst die euroskeptischsten unter seinen Tories nicht im Traum der EU anlasten würden. BJ verspielte in der Brexit-Euphorie die kostbarste Ressource in dieser Krise – Zeit. Während europäische Nationen den strikten Lockdown ab 9. März anordneten, jubelten 52 000 Liverpool-Fans, dann frohlockten 252 000 Zuschauer am Cheltenham-Festival – und steckten sich fröhlich gegenseitig an. Wäre Großbritannien nur eine Woche früher – statt erst am 23. März – in Lockdown gegangen, wäre die Hälfte der rund 60 000 Covid-Toten noch am Leben. Just inmitten in der Covid-Krise ereignete sich in den USA der brutale Mord an George Floyd, jenseits und diesseits des Atlantik kam es auch in den Straßen britischer Städte zu Demonstrationen der „Black Lives Matter“–Bewegung und zu blutigen Konfrontationen mit rassistischen Gegendemonstranten („White Lives Matter“). Und zu zahlreichen weiteren Ansteckungen. Ethnische Minderheiten – nicht nur afrikanischen Ursprungs – sind von Covid-19 und den sozial-wirtschaftlichen Konsequenzen der Pandemie deutlich härter betroffen, als ihre weißen Landsleute.
Die Wut der Demonstranten richtete sich nicht nur gegen Ungleichheit und Diskriminierung – sondern hatte zugleich die Geschichte der Nation im Visier: Kein Zweifel, dass Macht und Reichtum des British Empire und das Fundament des Finanzplatzes London zu einem beträchtlichen Teil auf dem Sklavenhandel beruhte (über drei Millionen Sklaven wurden von britischen Händlern über den Atlantik verschifft). Als Personifizierungen dieses dunklen Kapitels britischer Geschichte wurde die Statue der schottischen Sklavenhändler Robert Milligan in den Londoner Docklands entfernt und jene von Edward Colston im Hafenbecken von Bristol versenkt. Doch Colston hatte seiner Stadt mit dem angehäuften „schwarzen“ Vermögen zahlreiche Wohltaten erwiesen und das Denkmal wurde inzwischen von den Behörden stillschweigend wieder aus dem Meer gefischt – und soll in einem Museum landen. Während Großbritannien die Sklaverei 1807 mittels Parlamentsbeschluss abschaffte, tat dies Amerika nach dem Sezessionskrieg mehr als ein halbes Jahrhundert später.
Hier ist die Rassenfrage deutlich weniger zugespitzt als in den USA. Dafür gibt es in England – wie jeder aus der Fernsehserie „Downton Abbey“ weiß – die schwer überwindbaren Klassenunterschiede. Drei Viertel der Briten meinen, es sei nahezu unmöglich, von einer Klasse zur anderen aufzusteigen; vor zehn Jahren sagten das noch 65 Prozent. Brexit und die Wahlen von 2019, welche den Tories (der politischen Heimat der gehobenen Schichten) einen überragenden Wahlsieg brachten, wurden beide von Wählern der Arbeiterklasse entschieden. Und vier von zehn Brexit-Befürwortern trauern dem British Empire nach, das BJ mittels Brexit „irgendwie“ rekonstruieren möchte.