Quo vadis Britannia?

Union Jack. Quelle: Pixabay, CC0 Public Domain

London, UK (Weltexpress). An der Themse hat sich ein politisches Erdbeben ereignet. Die noch vor kurzem so vorbildlich stabile britische Demokratie ist in ihren Grundfesten erschüttert. Niemand in Großbritannien kennt sich noch aus, die Briten sind verwirrt und „fed up“ – des Hin und Her und der Stagnation im Brexit-Prozess überdrüssig. Alle befinden sich in einer Sackgasse: Das Parlament, das nicht mehr weiter zu wissen scheint – soll nun die Notbremse vor dem drohenden „No-Deal-Brexit“, dem vertragslosen EU-Austritt, gezogen werden, mit Premier Boris Johnson der Nation und der EU erpresserisch droht? Sollen (möglicherweise auf 14. Oktober) Neuwahlen anberaumt werden, mit denen Johnson vor allem die eigene Partei erpressen will?

Johnson erklärte in einem ziemlich schnoddrigen Auftritt vor Downing Street 10, Großbritannien werde „auf Biegen und Brechen“ am 31. Oktober die EU verlasen – mit oder ohne Vertrag. Und kurz danach, in der Nacht auf Mittwoch, musste Johnson seine erste heftige Niederlage im House of Commons. Die Tories verloren die Mehrheit, nachdem der konservative Abgeordnete Phillip Lee zu den Liberaldemokraten übergelaufen war – mit den Worten: „Ich habe meine Partei nicht verlassen – die Partei hat mich verlassen“. Nicht weniger als 21 Konservative sind handstreichartig aus der Partei ausgeschlossen worden: Sie wollen den „No-Deal“ um jeden Preis verhindern.

Doch zuvor tat „Boris der Schreckliche“ etwas, das in einer Bananenrepublik wohl als „Golpe“, als Staatsstreich etikettiert worden wäre: Er hat für kommenden Woche das Parlament in Westminster – diese legendäre „Mutter aller Parlamente“ – suspendiert um dessen Opposition gegen sein „No-Deal“-Manöver zu verhindern und die Queen dazu genötigt, ihren Segen zu dieser reichlich fragwürdigen Aktion zu geben. Arme Elizabeth II. Sie sah in ihrer Regierungszeit das Empire untergehen, es droht der Austritt aus der EU und der Absturz ihrer Nation in die Bedeutungslosigkeit, das einst unerschütterliche Pound Sterling hat seit dem Brexit-Referendum 20 Prozent seines Wertes eingebüßt, das Wirtschaftswachstum ist auf minus 2 % eingebrochen. Schlimmer noch: Die mehrheitlich proeuropäischen Schotten sind gegen England aufgebracht wie noch nie seit den blutigen Schlachten in den Highlands vor Jahrhunderten. Und Wales, Nordirland? Das Vereinigte Königreich droht auseinanderzubrechen, der stolze „Union Jack“, der einst über den Weltmeeren wehte und der heute sämtliche Touristensouvenirs von Portobello bis Covent Garden ziert, müsste eingezogen werden: Die alte Welt der Queen droht nun endgültig zu verschwinden.

Am Donnerstag dann der große Coup – und ein besonders harter Schlag für Premierminister Boris Johnson: Sein eigener Bruder Jo Johnson, den er (unvorsichtigerweise) als Minister in sein Kabinett aufgenommen hatte, obwohl er als „Remainer“, also Befürworter eines Verbleibs Großbritanniens in der EU galt, hat aus Protest gegen die Brexit-Politik seines Bruders den Rücktritt erklärt. Kommentatoren betonten daraufhin prompt – wenn schon der Bruder das Vertrauen in die Politik des Premiers verloren hat, wie soll denn die Nation auf Boris Johnson vertrauen? „Good point“ würde dazu jeder vernünftige Engländer sagen.

Brexit-Chaos und kein Ende: Noch sind alle Optionen auf dem Tisch. Vorgezogene Neuwahlen – entweder schon am 15. Oktober oder nach Johnsons besinnungslosem Austritt am 31. Oktober. Das Unterhaus hat in einem ersten Schritt diesen No-Deal-Austritt blockiert, aber wer weiß ob Johnson nicht doch eine Hintertür findet. Oder die (von Labour favorisierte) Verschiebung des Austritts auf Ende Januar 2020 – aber wer weiß ob die EU, die Langsam „die Schnauze voll hat“, dem zustimmt. Johnsons Tories haben die Mehrheit de facto verloren – und Boris Johnson selbst hat bisher nie ein demokratisches Mandat von den Wählern erhalten. Das will er nun durch vorgezogene Neuwahlen – die er verlieren könnte, genauso wie seine Vorgängerin Theresa May. Die Situation ist völlig verfahren, alles unklar und ungewiss. Eine vollumfängliche Regierungs- und Verfassungskrise.

Anmerkung:

Ein Teil dieses Kommentators ist bereits in den Vorarlberger Nachrichten vom 5.9.19 auf Seite 2 erschienen.

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