Wien, Österreich (Weltexpress). Es wirkt geradezu ominös, dass die „Titanic“, das dem Untergang geweihte maritime Weltwunder, in Belfast, Nordirland – im Jahr 1912 – das Licht der Welt erblickte. Kurz darauf, vor genau einem Jahrhundert, im Jahr 1921, wurde (als Folge der Teilung Irlands nach dem Ersten Weltkrieg) Nordirland geschaffen. Dieser Teil des Vereinigten Königreichs mit seinen 1,885 Millionen Einwohnern ist die schwächste Volkswirtschaft Großbritanniens mit den höchsten Arbeitslosen- und Armutsraten. Diese prekären wirtschaftlichen Voraussetzungen verschärfen den seit einem Jahrhundert blutig ausgetragenen Konflikt: Zwischen der katholischen Minderheit (45%) in Nordirland bzw. den Republikanern (Sinn Fein und der IRA und als militante Speerspitze), welche die Wiedervereinigung mit der (katholischen) Republik Irland anstreben und den protestantischen Unionisten bzw. Loyalisten, die unter allen Umständen im Königreich verbleiben wollen und mit 48% die (immer knapper werdende) Mehrheit bilden. Vor einem Jahrhundert war das Verhältnis 2:1 – die Zeit arbeitet gegen die Protestanten.
Es scheint, dass Nordirland als Teil des Vereinigten Königreichs ebenso wie die „Titanic“ dem Untergang geweiht ist. Es überlebte den Zweiten Weltkrieg, die sogenannten „Troubles“ (die nordirischen Unruhen) und drei schottische Unabhängigkeitsreferenden. Doch Brexit hat das Auseinanderfallen des Königreichs beschleunigt: die Mehrheit der Schotten und Nordiren war für den Verbleib in der EU.
Seit einigen Wochen sind die Unruhen in Nordirland in bedenklichem Masse wieder aufgeflammt. Es handelt sich aber nicht, wie in der Vergangenheit, um die Konfrontation zwischen Katholiken und Protestanten bzw. deren Paramilitärs, deren zwei Gruppierungen zusammen über gut bewaffnete 12 500 Mann verfügen. Die loyalistische Dachorganisation LCC proklamierte die Aufkündigung des Karfreitagsabkommens von 1998, das nunmehr 23 Jahre lang den Frieden in Nordirland garantiert hat. Der Grund: Die Loyalisten, deren politische Partei DUP ja die britischen Konservativen unter Theresa May mittels Koalition über Wasser gehalten hatte, sind enttäuscht, ja verbittert über Boris Johnsons „Verrat“ in seinem Brexit-Abkommen mit der EU. Denn während die Landgrenze zur Republik auf deren Betreiben weiterhin offenbleibt, verläuft jetzt die Zollgrenze mit dem Rest des Großbritanniens durch die Irish Sea, wodurch Nordirland einen politischen verhängnisvollen Sonderstatus im Königreich erhält – und der Vereinigung mit der Republik Irland einen großen Schritt näher gerückt ist: Die Protestanten sind alarmiert.
Anmerkung:
Vorstehender Artikel von Dr. Charles Ritterband wurde in „Vorarlberger Nachrichten“ am 15.4.2021 erstveröffentlicht.