Politische Polarisierung – Vorbereitung auf Krieg?

ADN-ZB/Archiv Heinrich Brüning (um 1930) Politiker des Zenrums und Staatsmann geb. 26.11.1885 in Münster gest. 30.3.1970 in Norwich (Vt.), VSA Brüning war 1921/30 Geschäftsführer des Deutschen Gewerkschaftsbundes, 1924/33 Mitglied des Reichstages. Als Führer der Zentrumsfraktion wurde er 1930 Reichskanzler, regierte diktatorisch mit Notverordnungen. Brüning musste 1932 zurücktreten. 1933 emigrierte er in die VSA und war 1934/52 Professor in Oxford, Boston und Cambridge, dann 1952/55 an der Universität Köln. Bis zu seinem Tod lebte er wieder in den VSA. Quelle: Wikimedia, Bild: Bundesarchiv, Bild 183-1989-0630-504 / CC-BY-SA 3.0

Berlin, Deutschland (Weltexpress). «Die deutsche Krankheit zum Tode» ist der Titel des Leitartikels, den die «Neue Zürcher Zeitung» am 15. Februar 2020 veröffentlicht hat und der vom Chefredakteur der Zeitung, Eric Gujer, verfasst wurde. Gujer diagnostiziert – gar nicht unzutreffend – bei allen deutschen Parteien der «Mitte» diese «Krankheit zum Tode», eine «Schwindsucht», die sich durch programmatische «Beliebigkeit» und eine Abkehr von ehemaligen zentralen Programmpunkten kennzeichne. So heisst es zum Beispiel: «Die CDU steht für alles und für das Gegenteil.» Oder über Bündnis 90/Die Grünen: «Die Grünen bringen […] in einem Satz Antiamerikanismus und Nato unter.» Nun könnte man als Leser erwarten, Gujer schlage vor, alle Parteien sollten sich wieder mehr um ein ehrliches programmatisches Profil, orientiert an ethisch fundierten Grundsätzen, bemühen. Das tut er aber nicht. Statt dessen fordert er die amtierende Kanzlerin Angela Merkel dazu auf, sie solle die Vertrauensfrage im Parlament stellen und so den Weg für Neuwahlen freimachen. Indes: Warum es nach Neuwahlen besser werden soll, begründet Eric Gujer nicht. 

Neuwahlen sind keine Garantie für eine Besserung

Da kann man sich auch an die deutsche Geschichte erinnern. Heinrich Brüning, Zentrumspolitiker der Weimarer Republik und Reichskanzler von 1930–1932, hat vieles falsch gemacht. Seine Deflationspolitik sollte zu einem Ende der Reparationen führen, führte aber erst einmal zu einer Verelendung grosser Teile des Volkes. Brüning war kein Demokrat, er hatte auch keine Regierung aus Fraktionen mit einer Mehrheit im Reichstag, sondern stützte seine Politik ganz bewusst in wesentlichen Punkten auf Notverordnungen des Reichspräsidenten. Die Arbeitslosenzahlen während seiner Kanzlerschaft erreichten Rekordhöhen, der gesellschaftliche Zusammenhalt geriet aus den Fugen, NSDAP und KPD hatten bei den Reichstagswahlen im September 1930 deutlich an Stimmen gewonnen, in Berlin waren Strassenschlachten zwischen der SA und den Kampfgruppen der SPD und der KPD an der Tagesordnung. Aber Brüning war kein Nationalsozialist, und im April 1932 verbot er die SA. Die Forderungen nach einem Rücktritt wurden daraufhin immer lauter. Wie die Geschichte weiterging, wissen wir: NSDAP und KPD erzielten nach Brünings Entlassung aus dem Amt bei den Neuwahlen im Juli 1932 zusammen die absolute Mehrheit der Mandate im Reichstag, Brünings Nachfolger Franz von Papen ebnete der kommenden Diktatur mit vielen Schritten den Weg (Aufhebung des SA-Verbotes, Staatsstreich in Preussen gegen eine Regierung aus SPD und Zentrum usw.). Dessen nach nur wenigen Monaten ernannter Nachfolger Kurt von Schleicher konnte nur noch ein paar Wochen regieren, am 30. Januar 1933 folgte der Reichskanzler Adolf Hitler.

Neuwahlen nach einer schlechten Regierung sind also keine Garantie dafür, dass die folgende Regierung besser sein wird. Zumal dann nicht, wenn die politische Kultur eines Landes in Schieflage geraten ist und keine Parteien und Kandidaten in Aussicht sind, die eine wirkliche Besserung erhoffen lassen.

Keine Wiederholung der Geschichte, aber …

Man kann davon ausgehen, dass eine einfache Wiederholung der Geschichte nicht geplant ist und auch nicht möglich wäre. Trotzdem stellt sich die Frage, warum und wozu Deutschland nun schon seit geraumer Zeit -politisch nicht mehr zur Ruhe kommt – obwohl es den Deutschen im Vergleich mit anderen Ländern Europas derzeit noch mehrheitlich – zumindest materiell betrachtet – recht gut geht und diese Situation nicht mit der in der Endphase der Weimarer Republik gleichzusetzen ist. Warum soll Deutschland wie ein Tollhaus wirken? Und warum gibt es immer wieder politische Inszenierungen, die diesem Eindruck Nahrung geben? Warum wird bei vielen politischen Entscheidungen dermassen stark polarisiert? Warum wirken dabei so viele Medien, auch die sogenannten «alternativen», lautstark mit?

Polarisierung – kein förderlicher Beitrag zur politischen Kultur …

Hier wird die These vertreten, dass diejenigen, die die politische Polarisierung in Deutschland aktiv vorantreiben – und die Kräfte gibt es auf allen Seiten der errichteten «Fronten» – nicht zum Aufbau einer für eine freiheitliche Demokratie förderlichen politischen Kultur beitragen, sondern zu einem Platttreten der zarten Pflanzen, die es in Deutschland bislang noch gibt. Auch der «empörte» und «zornige» «deutsche» «Wutbürger» ist keine Alternative zum nicht mehr verfassungsrechtlich, sondern nur noch machtpolitisch motivierten «Kampf gegen rechts» und zur Herauslösung von immer mehr Politikbereichen aus der Entscheidungsbefugnis nur noch pro forma souveräner Staaten in Europa.

Zu erwarten ist, dass die Grobheiten zunehmen und die Mitmenschlichkeit leidet. Adolf Hitler hatte seine Hitlerjugend in Horden aufeinandergehetzt und sich prügeln lassen. Aggressivität und Gewalt sollten eingeübt werden, die Immunabwehr gegen Krieg und Zerstörung sollte geschwächt und ausgeschaltet, die «Vermassung» des Menschen vorangetrieben werden.

… aber vielleicht zur Kriegsbereitschaft

Vieles deutet darauf hin, dass es auch heute wieder darum geht, die Deutschen kriegsbereit zu machen. Wer die Reden der diesjährigen Sicherheitskonferenz in München gehört hat, der hat erneut mitbekommen, dass die Weichen der Nato-Staaten in Richtung Russland und China auf Konfrontation und nicht auf Entspannung gestellt sind.1 Die Tatsache, dass die Nato-Staaten in ihren politischen Beziehungen zueinander erneut das Bild chaotischer Zustände geboten haben, kann davon nicht ablenken. Alle Nato-Staaten haben sich auch in München wieder für Aufrüstung ausgesprochen – auch Deutschland2 und Frankreich – und das Feindbild Russland und China genährt. Die Kontroversen über den künftigen Beitrag EU-Europas bei der Kriegsvorbereitung dürfen darüber nicht hinwegtäuschen.

«Es findet sozusagen eine Barbarisierung der internationalen Beziehungen statt, die das Lebensumfeld der Menschen belastet.»

Sergej Lawrow, Aussenminister Russlands, auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 15. Februar 2020

Das Hauptthema der Konferenz und die mehr als 100 Seiten umfassende, vor Konferenzbeginn veröffentlichte Analyse macht überdeutlich, welches Schreckgespenst zumindest die europäischen Nato-Staaten antreibt: «Westlessness»3. Dem wollen alle Nato-Staaten etwas entgegensetzen. Auch einen neuen Kalten Krieg? Auch den heissen Krieg? Geprobt wird immer intensiver, ganz in der Nähe der russischen Westgrenze (siehe Kasten) und gegen China in den Gewässern von Pazifik und Indischem Ozean. Da stört es sehr, wenn der Hauptstützpunkt der Nato auf dem europäischen Kontinent, Deutschland, nicht mitmachen sollte.

Die Deutschen wollen keinen Krieg! Aber das soll nicht mehr zählen

Nicht zuletzt, um diese Gefahr zu beschwören, hat das US-amerikanische PEW-Institut Anfang Februar die Alarmglocken läuten lassen:4 Die Zustimmung zur Nato sinke. Zwischen Mai und August 2019 waren 21 000 Bürger der 16 Nato-Staaten sowie aus Russ-land, der Ukraine und Schweden zu ihrer Meinung zur Nato befragt worden. Bewerteten 2007 noch 73 % der befragten Deutschen die Nato als positiv, so waren es 2019 nur noch 57 %. Und was die US-amerikanischen «Forscher» noch mehr alarmiert hat: Im Falle eines kriegerischen Konfliktes der Nato mit Russland wären nur 34 % der Deutschen bereit, deutsche Soldaten an die Front zu schicken – das ist der niedrigste Prozentsatz unter allen Nato-Mitgliedsstaaten. Die Deutschen wurden auch befragt, mit wem sie im Konfliktfall eine engere Zusammenarbeit suchen würden, mit den USA oder mit Russland. Auch hier gaben nur 39 % die USA an – und immerhin schon 25 % Russland.

Anmerkungen:

(1) Bezeichnend hierfür waren die Reden der in München sehr zahlreich vertretenen US-Politiker aus beiden grossen US-Parteien. Die Reden des russischen und des chinesischen Aussenministers waren dazu ein Kontrastprogramm. Beide bezogen sich auf die angespannte Weltlage, plädierten aber für ein multilaterales Miteinander der Staaten auf der Grundlage von Uno-Charta und Völkerrecht.

(2) Hierzu passen auch die offensichtlichen Signale für eine möglicherweise kommende schwarz-grüne oder grün-schwarze deutsche Regierung, die vom gemeinsamen Auftritt des CDU-Ministerpräsidenten Armin Laschet aus Nordrhein-Westfalen, einem der Kandidaten für die Nachfolge der bisherigen CDU-Vorsitzenden und die Kanzlerkandidatur von CDU und CSU, und der Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen Annalena Baerbock ausgingen. Die Grünen, die in ihrer Gründerzeit als Teil der Friedensbewegung galten, haben ihre Friedenspolitik seit der massgeblichen Beteilung ihres Aussenministers Joschka Fischer am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Jahr 1999 aufgegeben, und massgebliche Kräfte der Partei haben sich in den nachfolgenden Jahren immer stärker an der trotzkistisch-neokonservativen Feindschaft gegen Russland orientiert. Heute stehen Grünen-Politiker in Deutschland an der Spitze, wenn es darum geht, die Feindbilder Russland und China zu bedienen. Nimmt man das stundenlange Treffen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron mit Frau Baerbock und dem weiteren Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen Robert Habeck – auf eine Einladung von Macron hin – hinzu, so muss man in grosser Sorge sein. Die Münchner Rede des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier hat hingegen erneut das «ewige Dilemma» der deutschen SPD deutlich gemacht: Einerseits wird gegen Russland Stimmung gemacht, andererseits gibt es Restbestände entspannungspolitischen Denkens aus den sechziger und siebziger Jahren.

(3) Die vollständige Studie ist zu finden unter: securityconference.org/assets/user_upload/MunichSecurityReport2020.pdf

(4) Ein Bericht über die Studie sowie die pdf-Version der Studie finden sich unter www.pewresearch.org/global/2020/02/09/nato-seen-favorably-across-member-states/ vom 9.2.2020

Vorstehender Artikel von Karl-Jürgen Müller wurde in „Zeit-Fragen“ am 25.2.2020 erstveröffentlicht.

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Karl-Jürgen Müller
Karl-Jürgen Müller ist Lehrer in Deutschland. Er unterrichtet die Fächer Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde. Er lebt in der Schweizerischen Eidgenossenschaft und schätzt die direkte Demokratie und politische Kultur in der Schweiz sehr.