Aber lassen wir ihn zunächst mit eigenen Worten selbst umreißen, um welches Problem es ihm geht: „Die Nachwuchsfalle ist die größte Gefahr für die Volksparteien. Sie bluten langsam aus…
Die Sklerose der Volksparteien gefährdet langsam und weitgehend unbemerkt die Demokratie und zehrt die Legitimationsreserven der Parteien im parlamentarischen System auf. Der drohende Demokratie-Verfall ist empirisch belegt und hat ein bedenklich großes Ausmaß erreicht…
Im Zuge dieses Auszehrungsprozesses gefährden die Parteien Zug um Zug ihre im Grundgesetz verankerte Legitimationsbasis…
Parteien vermitteln noch den Eindruck, dass sie an den Hebeln der Macht sitzen würden. Tatsächlich existiert das `Primat der Politik` aber nicht mehr. Politiker arbeiten unter dem ?Primat der Wirtschaft`…
Das Primat der Politik muss wieder der gültige Maßstab der Demokratie sein…“
Es war am 11. Juni um 16.00 Uhr, als ich, Seiteneinsteiger im Journalismus, zum ersten Mal das Allerheiligste dieses Berufsstandes in unserem Lande betrete: Das Haus der Bundespressekonferenz. Im Lichthof des Gebäudes überquere ich auf hierzu ausgelegten Trittsteinen eine Wasserfläche. Aber wo in diesem Gebäudekomplex , verdammt nochmal, ist jetzt diese Buchvorstellung? Kein Pförtner, den man fragen könnte! Aber der Lichthof verfügt auch über eine exclusive Bar und die Bardame hilft mir weiter. Im konferenzsaal sehe ich zuerst Heiner Geißler in der ersten Reihe sitzen. Von selbiger Partei, die in dem hier nun vorzustellenden Buch somit die meiste Kritik abbekommt, ist auch derjenige, der das Buch vorstellt: Christian Wulff, stellvertretender CDU-Vorsitzender und Ministerpräsident von Niedersachsen. Trotz meines Rosa-Luxemburg-Stickers lächelt er mir freundlich zu, als ich leicht verspätet den Raum betrete.
Am Anfang des Buches erfahren wir, dass die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie anfertigen ließ. Die heißt „Positionsbestimmungen“, befasst sich mit der Frage der Demokratie-Entfremdung und wurde am 13. Mai 2008 vorgestellt. Das Fazit der Studie ist, dass 25% der Deutschen (20% der Westdeutschen und 41% der Ostdeutschen) den Satz unterschreiben würden: „Mit der Demokratie, wie sie bei uns heute ist, habe ich nichts zu tun.“ Weitere 34% würden dies zwar so nicht unterschreiben, finden diese Haltung aber nachvollziehbar.“
Auch über die Reformpolitik vom Typus Agenda 2010 wurde befragt: 57% sind reformkritisch eingestellt, 22% wollen die Reformen der letzten Jahre definitiv rückgängig machen. Nur 6% wünschen die Fortführung der „Reformpolitik“ . Der Autor kommt zu dem Schluss: „Für diese 6% wird Politik gemacht … offenbar nicht mehr Politik für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, sondern gegen sie…“. So hat es auch Oskar Lafontaine auf dem letzten Bundesparteitag der LINKEN ausgedrückt.
Aber die meisten Sozialdemokraten kennen den Inhalt der Studie bislang nicht: „Die politisch heikle Studie ist nur an einen ganz kleinen Kreis von führenden SPD-Politikern unter der Bedingung strikter Vertraulichkeit verteilt worden.“ So hat man das in der SED auch immer gemacht!
In der DDR hieß es, die FDJ sei die Kampfreserve der Partei, wobei mit DER Partei natürlich die SED gemeint war und nicht die Blockflöten, die es ja auch noch gab. Der Autor untersucht nun also die Auszehrung der Parteien anhand deren „Kampfreserven“, d.h. ihrer Jugendverbände, denn deren Mitgliederentwicklung dürfte am ehesten die zukünftige Mitgliederentwicklung der jeweiligen Parteien voraussehen lassen.
Die Junge Union hat derzeit ca. 126 000 Mitglieder. 1983 hatte sie ihren Höchststand mit ca. 262 000. Sie hat sich also seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts halbiert. Die Jusos zählen heute noch 70 000 Mitglieder. Das ist nur noch ca. 1/5 der Mitgliederzahl von 1977: 337 000! Die Grüne Jugend gibt es erst seit 1994 und hat 6 000 Mitglieder und zeigt noch keinen Substanzverlust. Die Julis der FDP werden auf 10 000 Mitglieder taxiert. Mengenmäßig ist hier auch kein Schwund zu verzeichnen, nur das Wegbrechen jeglichen links- oder sozialliberalen Flügels, wie in der FDP selbst. Der Jugendverband `solid ( sozialistisch, links, demokratisch ) verzeichnet 9 400 Mitglieder. Da erst 1999 erstmalig und dann 2007, bei der Vereinigung von PDS und WASG, neu gegründet, zeigt keinerlei Auszehrung, sondern wohl eher Wachstum.
Fazit: Die Auszehrung der Parteien betrifft vor die Parteien, die man in der Bundesrepublik immer die großen Volksparteien nannte. Die SPD ist davon auch noch weit stärker betroffen, als die CDU. Den gleichen Trend zeigen ja auch die Wahlergebnisse der letzten Jahre.
Der Autor untersucht desweiteren den Zustand der innerparteilichen Demokratie in den Parteien Deutschlands. Kann, wer mit einem politischen Mitgestaltungsanspruch in diese hineingeht, diesen ausleben oder erkennbar erleben?
Die Union kommt hier sehr schlecht davon. In ihr herrschen Geheimbünde, Logen und Karriereseilschaften. Hierzu ein paar Aussagen von Schorsch Brunnhuber, Vorsitzender der CDU-Landesgruppen und damit oberster „Teppichhändler“ beim Aushandeln von Postenbesetzungen, sowie Chef der Geheimloge „Xantener Bund“, welche im vorliegenden Buch zitiert werden: „Wir diskutieren Politik, überlegen, was wir machen können, trinken unser Bier und treffen uns etwa einmal im Quartal… Aber es geht niemanden etwas an. Wir müssen selbst als Abgeordnete nicht jedem erzählen mit wem wir einen Stammtisch haben… Nicht einmal unsere Kollegen wissen, wer sich da trifft. Und das soll auch so bleiben… Es gibt keine Bewerbungen. Wir entscheiden in kleiner Runde, wen wir ansprechen…“ Weiter erzählt Brunnhuber über Strömungen in der CDU: „So etwas gibt es bei uns nicht, und das verhindern wir auch. Ich bin strikt und streng hinterher, dass ich solche Dinge unterbinde oder zumindest dafür sorge, dass sie garnicht erst zustande kommen…“ Man erinnere sich: Das Verbot von Fraktionen und Strömungen in der Partei der Bolschewiki bereitete die Diktatur Stalins in der Sowjetunion vor. Aber soweit muss es bei uns natürlich nicht kommen, denn wir haben ja noch mehr Parteien als nur die CDU. Sieht es da besser aus?
Die SPD leistet sich Strömungen und Flügel. Trotzdem sieht es mit der innerparteilichen Demokratie nicht gerade rosig aus. Die SPD zählt in Hamburg 30 000 Mitglieder. In Mecklenburg-Vorpommern sind es gerade noch 2 793. Die wirklich aktiven Mitglieder, welche die Partei am Laufen halten werden nur auf 280 geschätzt. Die SPD von McPomm bekommt zwar immer wieder passable Wahlergebnisse, ist aber als Mitgliederpartei kaum noch vorhanden. Da dieser Landesverband praktisch nichts mehr zu verlieren hat, hat er eine „Arbeitsgruppe Mitgliederentwicklung“ einberufen, welcher eine interessante Studie erarbeitet hat. Natürlich nur für den internen Dienstgebrauch! In dieser Studie kann man lesen: „Bisher arbeiten wir zumeist nach folgendem Muster: Eine bestimmte Kräftekonstellation entsteht. Fraktion und(oder Regierung haben sich entschieden, und dann versucht man die Zustimmung der Mitgliedschaft einzuholen. Ein gutes bundespolitisches Beispiel für einen völlig mißlungenen innerparteilichen Vorgang ist die Diskussion um die Agenda 2010.“ Also mit der innerparteilichen Demokratie der SPD ist es völlige Fehlanzeige: Die Spitze entscheidet und die Basis wird gedroschen bis sie zustimmt oder die Partei verlässt.
Bei FDP, Grünen und LINKEN wurden vergleichbare systematische Mängel der innerparteilichen Demokratie nicht ausgemacht. Fazit: Bei den sogenannten großen Volksparteien ist es mit der innerparteilichen Demokratie ziemlich katastrophal bestellt.
Wenn jemand unbedingt ins Kanzleramt will, sollte man eigentlich meinen, er weiß auch, was er dort zu tun beabsichtigt, wenn er es denn geschafft hat, Na gut, hier und da kann ihm auch mal eine Politikberatung von Nutzen sein. Als der Nominal-Sozialdemokrat Gerhard Schröder ins Kanzleramt einzog, hätte man meinen können, dass er sich nun seine Berater aus der parteinahen Friedrich-Ebert-Stiftung holt. Zu diesem Zeitpunkt gab es auch noch ein sehr enges Verhältnis von SPD und Gewerkschaften und auch der DGB verfügt über eine ihm nahe stehende Stiftung, die gerade über große ökonomische- und Arbeitsmarktkompetenz verfügt. Aber nein, Schröder griff auf andere Berater zurück: Lobbyisten, PR-Berater und Public-Affairs-Manager.
Der Autor des Buches kommt zu dem Schluss: „Politikberatung ist oft die Eintrittskarte für gewöhnliche Lobbyinteressen… Sie [die Politiker] greifen auf Lobbyisten und Kanzleien zurück, die im Gewand der Politikberatung auftreten und die gewünschte Expertise (schnell) liefern… Faktisch sind die meisten Politikberater Lobbyisten für ihre Auftraggeber. Sie unterliegen allen Vor- und Nachteilen des Gewerbes. Lobbyissmus unterscheidet sich aber von seiner instrumentellen Zielsetzung, dem oft unbegrenzten Einsatz der Mittel und dem Verzicht auf ethische Grenzen fundamental von unabhängiger Politikberatung… Politikberater können (fast) keine schlüssige Erfolgsgeschichte erzählen. Nachgewiesener Erfolg, belastbare Ergebnisse sind aber der Rohstoff der Legitimation… Nun ist nachgewiesen, dass Berater oftmals als Korruptions-Ermöglicher eingesetzt werden…“
Meine persönlichen Schlussfolgerungen aus diesem Buch: die sogenannten großen Volksparteien waren das Politikmodell des antizyklischen Wohlstands- und Sozialkapitalismus der Nachkriegszeit, basierend auf der Nachkriegskonjunktur. Ihr Erfolg basierte auf der Ideologie der Klassenversöhnung oder Klassenharmonie. Diese war zwar immer bis zu einem gewissen grade Fiktion; die Illusion konnte aber für größere Teile der Bevölkerung aufrecht erhalten werden, so lange die Ergebnisse der Produktivitätssteigerung auch den arbeitenden Klassen zugute kamen, der Wohlstand nahezu aller, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße, wuchs. Der Neoliberalismus, der verschärfte Klassenkampf von oben, gräbt den großen Volksparteien das Wasser ab. Bei Kapitalrenditeerwartungen von 20-25% bei einem BIP-Wachstum von ca. 2% ( vor der Krise! ) vertiefen sich zwangsläufig die sozialen Gräben. Der Mitglieder- und Wählerverlust der großen Volksparteien lässt sich vermutlich graphisch darstellen als eine Funktion der Höhe der durchgesetzten Kapitalrenditeerwartung. Große Volksparteien können neoliberale Politik nur durchsetzen bei Unterdrückung der innerparteilichen Demokratie, denn wir hatten ja gesehen, dass eigentlich nur 6% der Bevölkerung für diese Politik sind. Für die ehemalige Arbeiterpartei gilt dies am stärksten. Für die Parteimitglieder wird damit eigenes Mitgestalten immer unmöglicher und die Mitgliedschaft irgendwann nur noch für Politkarrieristen attraktiv. Die Beibehaltung des neoliberalen Modells würde die politische Landschaft immer mehr auf die Pole westerwelle und Wagenknecht polarisieren. Die deutsche Demokratie braucht eine große Volkspartei, die sich den scheinbaren Sachzwängen des Neoliberalismus offensiv entgegenstellt; die Absenkung der Profitrate, der Kapitalrendite, politisch durchsetzt. Der Osten hat sie schon, im Westen ist sie im Entstehen. Und: Unsere Demokratie ist erst dann eine wirkliche, wenn von den Einrichtungen der Wirtschaft jenes Schild entfernt werden kann, dass man heute sich hier immer vorzustellen habe: „Achtung, sie verlassen den demokratischen Sektor!“
Das vorliegende Buch sei jedem, der sich für die politische Zukunft unseres Landes interessiert, nicht nur empfohlen, sondern dringend angeraten! Obwohl der Autor durchaus kein Marxist ist, aber ein sehr wahrheitsliebender und gründlich recherchierender Journalist, beschreibt er in seinem Buch praktische den Mechanismus der de-facto-Kapitalherrschaft trotz der Existenz eines ausgezeichneten demokratischen Wahlrechts. Mit jenem besonders interessanten Teil des Buches, der sich von dem Verhältnis SPD – Linke handelt, werde ich mich in einem gesonderten Beitrag befassen.
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Thomas Leif: „angepasst & ausgebrannt – Die Parteien in der Nachwuchsfalle – Warum Deutschland der Stillstand droht“, C. Bertelsmann Verlag, München 2009, Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 496 Seiten, 13,5 x 21,5 cm, ISBN: 978-3-570-01129-4