Parteienkartell und Scheinopposition: Das Wahl-Dilemma der Ostdeutschen

Karl-Marx-Orden der DDR. Quelle: Wikimedia, gemeinfrei

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Die Wahlergebnisse in Thüringen und Sachsen bringen den Mainstream zum Kochen. Die Medien wechseln von Entrüstung zu Ossi-Bashing, Altpolitiker überbieten sich mit Sündenbock-Thesen und Moralin. Doch es gibt ein echtes Dilemma, in dem die aufmüpfigen ostdeutschen Wähler stecken.

Die Wahlergebnisse in den ostdeutschen Bundesländern Thüringen und Sachsen sind so wenig überraschend, wie die hysterischen Reaktionen des Mainstreams darauf: Rechte CDU-Hardliner distanzieren sich öffentlichkeitswirksam von ihrer erstarkten rechten Schwesterpartei AfD. „Experten“ identifizieren mal wieder den „demokratiefernen Jammerossi“ als Übel – und so weiter, das übliche eben.

Der Grad an Absurdität dieser seit Jahren vollführten Moral-Show steigt mit der politisch vorangetriebenen Zerrüttung der Lebensverhältnisse. Nach tiefer gehenden Analysen mit Blick auf die realen Interessen der lohnabhängigen Bevölkerung sucht man vergeblich. Nicht einmal die eindeutige Ursache wird reflektiert: die berechtigte Wut auf die etablierte Kriegskurs-Politik. Die daran anknüpfende Frage müsste lauten: Was bringen solche Wahlergebnisse der Mehrheit der Wähler wirklich? 

Absage an Kriegstreiberei, Zensur und Co. 

Zunächst kurz rückblickend zu den Ergebnissen: In Thüringen gewann die AfD haushoch mit knapp 33 Prozent, die CDU erreichte fast zehn Prozentpunkte weniger. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) folgt mit knapp 16 Prozent. In den Landtag schafften es außerdem die Linke mit noch 13 und die SPD mit rund sechs Prozent. Der Rest muss draußen bleiben. 

In Sachsen verteilt sich der seit 1990 hohe konservative Wählerstamm nunmehr auf fast 32 Prozent CDU und knapp 31 Prozent AfD. Dem folgt das BSW mit rund zwölf und die SPD mit gut sieben Prozent, die Grünen schafften knapp die Fünf-Prozent-Hürde. 

Die Wähler sendeten eine eindeutige Botschaft: Sie haben die etablierte Politik satt und erhoffen sich Veränderung durch AfD oder BSW. Ganz oben auf der Liste des Unmuts dürften stehen: Die Kriegstreiberei gegen Russland, die damit verbundene desaströse Energiepolitik, die zu einer Explosion der Heiz- und Stromkosten führte, die Migrationspolitik sowie die Angriffe auf die Meinungs- und Pressefreiheit. 

Das Verbot der russischen Sender RT und Sputnik im Jahr 2022 ist nur ein kleiner Teil umfassender Zensurmaßnahmen in Deutschland und der EU. Das sogenannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz trat bereits 2017 in Kraft und führte 2020 mit Beginn der Corona-Maßnahmen zu ausufernder Zensur in sozialen Netzwerken. Erst kürzlich wurden in mehreren EU-Staaten, darunter Deutschland, pro-palästinensische Telegram-Kanäle verboten.

Auch die ostdeutsche Geschichte darf nicht ausgeblendet werden. Mit dem Anschluss der DDR an die BRD wurde der Osten zum Armenhaus Deutschlands gemacht: Die Löhne sind bis heute niedriger, die Armutsraten höher. Viele Politiker und Firmenbosse kommen nach wie vor aus dem Westen, die einst von Altkanzler Helmut Kohl (CDU) versprochenen „blühenden Landschaften“ kamen nie. 

Der „Ossi“ als Sündenbock 

Die Medien, deren Chefs ebenfalls großteils aus dem Westen stammen, denken aber nicht daran, diesen Kontext zu beleuchten. Selbstreflexion findet gar nicht statt, Zensur und „Cancel Culture“ dafür um so mehr. 

Beispielhaft für viele Medien fantasierte etwa der Bayrische Rundfunk (BR) aus westlicher Ferne von einem Rechtsruck – als ob es den im CSU-Bayern nicht gäbe, ja, ganz so, als betrieben die etablierten Parteien allerorts keine zunehmend antisoziale, kriegstreiberische, autoritäre, also rechte Politik. 

Die unvermeidlichen Phrasen des „Ostbeauftragten“ der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD), durften auch nicht fehlen. Dieser beklagte eine „geringe Parteibindung in Ostdeutschland“.  Dies zeigt trefflich das westdeutsche Verständnis von Demokratie: Das Großkapital von US-Gnaden bestimmt, wo es langgeht, die Leute sollen die Umsetzer aus dem vorgesetzten Parteienblock wählen. Diese Einheitsfront nennen die Bullshit-Propagandisten dann „demokratische Mitte“. 

Der Ossi als Feindbild hat dabei nicht ausgedient. Demokratiefern sei er, ein bisschen minderbemittelt und notorischer Nazi sowieso, unheilstiftend eben. Mit „Bösen“ redet der „gute“ Demokrat bekanntlich nicht: nicht mit Russland, nicht mit dem Iran, nicht mit Palästinensern, und so weiter – eben auch nicht mit Ossis. 

Doch kein Leitmedium wirft mal die Frage auf, warum diese Ossis denn politische Vertreter wählen sollten, die ihre Probleme nicht nur nicht ernst nehmen, sondern sie wie eine billige Verfügungsmasse fürs westliche Kapital benutzen und eh nicht mit ihnen reden wollen? Niemand mit einem Rest Selbstachtung täte das. 

Der westliche Imperialismus 

Von derartiger Selbstreflexion ist weit und breit nichts zu finden, keine Spur auch von einem Blick auf die tatsächlichen Interessen der „kleinen Leute“. Das alles wäre aber nötig, um die Anschlussfrage stellen zu können: Inwiefern sind AfD und BSW tatsächlich eine Opposition im Sinne der Mehrheit der Ottonormalbürger? Gegen die desaströs agierenden etablierten Parteien zu sein, genügt dafür nicht allein. 

Dazu ein Blick auf den weltpolitischen Kontext. Deutschland ist eingebunden in den westlichen Kapitalblock, der mittels NATO eine imperialistische Strategie gegen seine Kontrahenten, im wesentlichen Russland und China, verfolgt, um – ohne Rücksicht auf Verluste – seine schwächelnden Profitraten wieder zu steigern. 

Dabei setzt der Westen nicht auf die Erhöhung des eigenen Lebensstandards, schon gar nicht auf Kooperation mit wirtschaftliche schwächeren Ländern. Er verfolgt das Ziel, Märkte zu erobern, technologisch Oberwasser zu gewinnen und kriegerisch aufzurüsten. Die NATO ist somit eine imperialistische Eroberungsarmee im Interesse des westlichen Kapitalblocks – und dieser sitzt heute vor allem in den USA. 

Die USA als NATO-Führungsmacht, so kann man es wohl beschreiben, betrachten Europa anscheinend als Kolonie für ihre eigenen Interessen, die es, wie den „globalen Süden“, auszuplündern gilt. Dabei nehmen die USA als kapitalistisches Mutterland weder Rücksicht auf die eigene Bevölkerung, was an den rasant steigenden Armutsraten sichtbar wird, noch auf die Zustände in Europa, wo es sich ähnlich entwickelt. 

Die NATO-Osterweiterung ähnelt eigentlich einer kolonialen Erweiterung, freilich verbunden mit ein wenig Erpressung von der Art: Wenn du nicht beitrittst, bekommst du keinen militärischen Schutz. Das ist wie die Mafia in großem Rahmen. Die westlichen Imperialisten denken nicht daran, die dem Kapitalismus innewohnende Monopolbildung des Kapitals aufzuhalten. Sie hoffen offenbar, davon zu profitieren. 

Die wirtschaftlichen Krisen führen allerdings zu Problemen mit zunehmend verarmenden, aber auch widerspenstigen Bevölkerungen. Dem begegnen die Regierungen autoritär: mehr Zensur, mehr Verbote, mehr Staatsgewalt. Die etablierten Parteien in Deutschland, von der SPD bis zu den Grünen, der CDU bis zur FDP, vertreten die imperialistische Agenda der USA – Deutschland als ihr Anhängsel sozusagen. 

NATO-affine Scheinopposition 

Doch wen vertreten eigentlich AfD und BSW? Natürlich bekunden sie wie alle anderen auch, an der Seite der deutschen Bevölkerung zu stehen und in deren Sinne zu agieren. Allerdings prangern beide nicht die systemische Ursache der innenpolitischen Verwerfungen an: Den NATO-Imperialismus von US-Gnaden. 

Die AfD will laut ihres Programms an Deutschlands NATO-Mitgliedschaft nicht rütteln, sondern lediglich Deutschlands Stellung in ihr verbessern und das Militärbündnis mehr auf Verteidigung umpolen. Das ist angesichts der Machtverhältnisse utopisch, zumal die AfD nie Einwände gegen die NATO-Osterweiterung hatte und auch Waffenlieferungen in Kriegsgebiete regelmäßig zustimmte – nur in die Ukraine nicht. 

Mit anderen Worten: Die AfD will am System nichts ändern, auch nicht am imperialistischen Vorgehen der NATO gegen alle Welt – sie will aber die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland wieder herstellen, um die deutsche Industrie nicht in den Ruin zu treiben. Objektiv betrachtet steht sie damit an der Seite des von US-Monopolen bedrohten nationalen Großkapitals, das auf günstige Energie aus Russland angewiesen ist. Freilich würde das, zumindest vorläufig, auch dem Mittelstand helfen. Das ist aber auch schon alles. 

Das BSW umschifft die ganze NATO-Frage sogar vollständig. Stattdessen wünscht es sich mehr „eigenständiges Europa souveräner Demokratien“, deren abweichende Interessen die USA doch bitte beachten möge. Das kann man freilich fordern und wünschen: Aber realistisch ist es nicht, als Mitglied der NATO dies auch nur ansatzweise umzusetzen. 

Vertreter der oppositionellen Kapitalfront 

Das Problem an beiden Konzepten ist: Sie berücksichtigen bestimmte Interessen der Bevölkerung zwar mit Sprüchen auf dem Papier, real wird diese dabei aber immer Verfügungsmasse des Kapitals bleiben. 

Auch außenpolitisch kann sich dabei nicht viel ändern, zum Beispiel an den Ursachen für Flucht und Migration. Diese wären nur zu beheben, wenn Deutschland von der gegenwärtigen imperialistischen Ausbeutung ärmerer Staaten auf Kooperation mit ihnen umschwenkt. Im Verbund mit der NATO wird es dazu nicht kommen können. Ohne Kampf gegen die Fluchtursachen wird man Flüchtlinge und Migranten nur mit Barbarei abwehren können. Und Barbarei führt meist zu noch mehr Barbarei. 

Man kann es auch so beschreiben: Aktuell findet ein innerwestlicher Kampf zwischen zwei Kapitalfraktionen statt: US-dominierte, multinational agierende Monopole, die mehr und mehr den westlichen, darunter den deutschen Markt beherrschen, treiben national und gen Osten orientierte, häufig auf fossile Technologien setzende Konzerne zusammen mit dem deutschen Mittelstand in den Abgrund. 

Während die Politik an der Seite der Monopolisten steht, bilden AfD und BSW die andere Kapitalseite ab. Die Opposition existiert damit zwar tatsächlich, diese steht aber keineswegs primär an der Seite der lohnabhängigen Mehrheitsbevölkerung. Für deren Interessen wären mindestens systemische Umschwünge nötig, allem voran eine Abkehr vom NATO-Imperialismus sowie der Kampf gegen die Monopolbildung, durch weitreichende Entprivatisierungen und Vermögensbegrenzungen etwa.

Wahl-Dilemma und Entrüstungsshow 

Das Dilemma der ostdeutschen Wähler ist weniger das Wahlverhalten, als die Nichtexistenz einer echten Opposition für ihre Interessen. Die Linkspartei, ehemals PDS, ist einst als solche angetreten im Osten, hat aber die Hoffnungen der Bevölkerung rasch enttäuscht. Heute ist sie weitgehend eingebettet in den Mainstream, ihre einst wenigstens im Ansatz klassenkämpferischen Positionen hat sie gegen Cancel Culture und Identitätspolitik eingetauscht. 

Das Fehlen einer echten Opposition für die Interessen der Lohnabhängigen ist geradezu ein Glücksfall für das imperialistische Parteienkartell. Diese kann innerkapitalistische Konkurrenten, die kein bisschen bedrohlich für das System sind, zu großen Buhmännern aufblasen und die Wähler so immer noch daran hindern, ihre eigenen Interessen zu erkennen und dafür zu kämpfen. 

Anders ausgedrückt: Ein rechter Parteienblock bekämpft eine rechte Scheinopposition und erklärt deren Wähler zu Sündenböcken, die für einen „Rechtsruck“ verantwortlich seien, den die Altparteien selbst verantworten. Dazu gibt’s gratis eine moralinsaure Enrüstungsshow fürs Volk – verrückt.

Anmerkungen:

Vorstehender Beitrag von Susan Bonath wurde unter dem Titel „Parteienkartell und Scheinopposition: Das Wahl-Dilemma der Ostdeutschen“ am 3.9.2024 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.

Siehe auch die Beiträge

im WELTEXPRESS.

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