Berlin, Deutschland (Weltexpress). Zusammengefasst, es geht um Angst und Schuld. Das sind die wesentlichen, die Debatte motivierenden psychischen Energien. Ob nun im Bundestag anlässlich der ersten Befragung des neugewählten Bundeskanzlers Olaf Scholz zur Einführung der allgemeinen Impfpflicht oder im Schloss Bellevue in trauter Runde „Bürger-Experten“ mit dem Bundespräsidenten diskutieren, die bis zur Todesangst reichenden Emotionen als auch die einhergehenden Schuldfragen bilden sowohl den janusköpfigen Quell als auch den apokalyptischen Abgrund vor den sich die Gesellschaft, der Staat und unsere Entscheidungsträger gestellt sehen.
Bei der Gesprächsrunde mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue war mir auffällig, mit welch bissiger Vehemenz dieser redegewandte CEO des Staates seine Standpunkte und nicht zuletzt ganz persönlichen Gesundheitsinteressen zu vertreten weiß. Als Seniormanager gehört er einer Klasse von Entscheidungsträgern zu, die ohne Frage von der Corona-Pandemie am meisten zu befürchten hat. In seine Altersgruppe der Vorsiebziger fallen die häufigsten Schwererkrankungen, Todesfälle und Long-Covid-Spätfolgen. Darum, im Amt bleiben und aktiv und tätig den Staat den eigenen Bedürfnissen entsprechend gestalten zu können, das sind die von ihm unter Beweis gestellten Fähigkeiten. Doch selbst wenn er sich als herausragender Interessenvertreter seiner Altersklasse erwies, kann er dann auch für sie beanspruchen, die Staatsbelange zum Wohle des Ganzen zu vertreten? Mitnichten! Unter den Schutzmaßnahmen für insbesondere die älteren Mitbürger sollen nun mehr im zweiten Corona-Winter die Kinder, die Schüler bis hin zu deren Elterngeneration mit Impfpflicht, mit Kontakt- und Lebenseinschränkungen belegt werden und das obwohl sie die Erkrankung leichter wegstecken können. Vom staatlichen Hausherren wird demnach eine Solidarität eingefordert, die übergriffig einseitig die Lebensinteressen des größeren Teils der Gesellschaft beeinträchtigt.
Steinmeiers wiederholte Unterstellungen von Angst vor der Impfung verdeckt seine eigene Angst vor Ansteckung und Tod. Sein wissenschaftlich fundierter Rationalismus ist nichts anderes als Angstabwehr und vor allem Projektion auf jene, die sich gegen die von ihm im Schulterschluss mit seinen pensionierungsreifen Senior-Kollegen – ich denke dabei nicht nur an Ursula von der Leyen – geforderten Maßnahmen in friedlichem Protest wenden. Schlagfertig hat er auf jedes Argument eine Antwort oder aber er weiß sich, nicht zuletzt mit Unterstützung aus den eigenen zumal professoralen Reihen, anders zu helfen.
Der parteiische Gesprächsmoderator Steinmeier und sein bundespräsidiales Team hatten sich eine Runde von „Bürgern“ ausgesucht, die sich freilich nicht nur aus Experten in ihrem Berufsfeld, sondern auch in Sachen Corona auswiesen. Es sollte eine Pro und Contra Diskussion sein. Von einer gleichgewichtigen Verteilung dieser bipolaren Standpunkte konnte jedoch keine Rede sein. Von den sieben teilnehmenden Bürger-Experten, vier Frauen, drei Männer, wurde lediglich eine Frau und ein Mann als Impflichtgegner vorgestellt. Das mag durchaus dem repräsentativen Bevölkerungsanteil der Corona-Maßnahmen Gegner entsprechen, doch ließ das schon im Vorfeld an einer Chancengleichheit der Argumente zweifeln. Auch dass die nicht öffentliche Liste der Gesprächsteilnehmer streng nach Rang und Titel geordnet schien, erinnerte eher an die absolutistische Klasseneinteilung des Sonnenkönigs Louis XIV. Der Reihenfolge nach bestand sie aus zwei Professoren, einem Lehrer, einer Krankenschwester, einer Altenpflegerin und zuletzt den beiden Impflichtgegnern, einem Assistenten der Geschäftsleitung und einer weiteren Lehrerin. Im Verlauf der bald zweistündigen Diskussion vermochte es die Impflichtgegnerin zum argumentativen Zentrum des Gesprächs zu werden. Immer wieder die Gegenargumente bejahend aufnehmend, niemals in beleidigende oder herabsetzende Redewendungen verfallend, gelang es auch einem Steinmeier nicht, ihr Paroli zu bieten. Vielmehr blieb seiner Moderation wiederholt nichts anderes übrig als sich resigniert abzuwenden und auf andere Gesprächspartner zurückzugreifen oder aber das Thema zu wechseln, was auch eine Art ist, die hausherrschaftlichen Vorteile des Gesprächsmoderators zum eigenen Vorteil zu nutzen.
Wenn demnach die Diskussion respektvoll und auf hohem Niveau anscheinend sachlich geführt wurde, konnte ich jedoch bemerken, dass Steinmeier nach Anti-Corona Beiträgen wiederholt die professorale Psychologin zu einem Beitrag aufforderte. Eine solche Psychologisierung des Anti-Corona Protestes erinnert mich an die stalinistische Praxis, Teile der unliebsamen Opposition in Irrenhäusern zu inhaftieren und die anderen durch Schuldzuweisungen zu kriminalisieren und im Gulag zu entsorgen, soll heißen basisdemokratische Spaziergänge mit Kerzen und Gesang sind ansteckend gefährlich, weil in der Politik schreckt man eben vor nichts zurück.