Eine Koalition setzt sich aus verschiedenen Staaten zusammen, von denen jede ihre eigenen nationalen Interessen und innerpolitischen Druck hat. Um ein Abkommen über irgend etwas zu erreichen, braucht man Zeit, die von einem entschlossenen Feind zum eigenen Vorteil genützt wird.
All dies ist in dem Krieg der Koalition gegen Muammar Gaddafi deutlich geworden.
Es gibt keinen anderen Weg, diesen „exzentrischen“ Tyrannen los zu werden als mit reiner militärischer Macht. Dies scheint jetzt offensichtlich zu sein.
Wie ein hebräischer Scherz lautet: Gaddafi mag wahnsinnig sein, aber er ist nicht verrückt. Er nimmt die Risse in der Koalitionsmauer wahr und ist schlau genug, sie auszunützen. Die Russen enthielten sich im UN-Sicherheitsrat der Stimme – was tatsächlich eine Zustimmung der Resolution bedeutet – aber sonst nörgeln sie an jedem Schritt. Viele wohlmeinende und erfahrene Linke rund um die Welt verurteilen alles, was die US und/oder die Nato macht, egal was es ist.
Einige Leute verurteilen die „libysche Intervention“, weil es keine entsprechende Aktion in Bahrain und im Jemen gibt. Sicherlich ist es ein Fall von eklatanter Diskriminierung. Aber es ist so, als ob ein Mörder fordert, ungestraft zu bleiben, weil andere Mörder auch noch frei herumlaufen. Minus mal Minus ist gleich Plus, aber zwei Morde werden kein Nicht-Mord.
Andere behaupten, dass einige der Koalitionspartner nicht besser als Gaddafi sind. Also warum auf ihm herumhacken? Nun – er ist es, der die Welt provoziert und beim Aufwachen der arabischen Welt im Wege steht. Mit der Notwendigkeit, andere zu entfernen, muss man sich auch befassen, aber sollte in keiner Weise einem Argument dienen, die gegenwärtige Krise nicht zu lösen. Wir können nicht auf eine perfekte Welt warten – das kann noch eine Weile dauern. In der Zwischenzeit lasst uns unser Bestes in einer unvollkommenen Welt tun.
Mit jedem vorübergehenden Tag mit Gaddafi und seiner Verbrecherbande der Macht wird die Koalitionsmalaise schlimmer. Das gemeinsame Ziel „ die libyschen Zivilisten zu schützen“ erschöpft sich langsam. Es war von Anfang an eine höfliche Lüge. Das gemeinsame Ziel ist – und kann nichts anderes sein – als den mörderischen Tyrannen zu entfernen. Seine bloße Machtposition ist eine anhaltende tödliche Bedrohung für sein Volk. Aber das wurde in der Koalition nicht ausgesprochen.
Mittlerweile ist klar, dass die „Rebellen“ keine wirkliche militärische Macht sind. Sie sind keine vereinigte politische Bewegung, und sie haben kein politisches – geschweige denn militärisches Kommando. Sie können Tripolis nicht selbst erobern, vielleicht nicht einmal, wenn die Koalition sie mit Waffen ausrüstet.
Es geht nicht um eine irreguläre Kraft, die gegen eine reguläre Armee kämpft, und nach und nach selbst zu einer organisierten Armee wird – wie es bei uns 1948 war.
Die Tatsache, dass es keine Rebellenarmee ist, über die zu sprechen es sich lohnt, mag ein positives Phänomen sein – es zeigt, dass es keine verborgene, unheimliche Macht ist, die aus den Kulissen auftaucht und darauf wartet, Gaddafi durch ein anderes unterdrückerisches System zu ersetzen. Es ist tatsächlich ein demokratischer Grasswurzelaufstand.
Aber der Koalition verursacht sie Kopfschmerzen. Was nun? Gaddafi jetzt wie ein verletztes und darum um so gefährlicheres Tier in seiner Höhle lassen, in jedem Augenblick bereit, sich auf die Rebellen zu stürzen, wenn der Druck weg ist? Hineingehen und selbst den Job tun, ihn zu entfernen? Weiter reden und nichts tun?
Eines der heuchlerischsten – wenn nicht gar lächerlichsten – Vorschläge ist, mit ihm zu verhandeln. Mit einem irrationalen Tyrannen verhandeln? Worüber? Über ein Verschieben des Massakers von Rebellen um sechs Monate? Über einen Staat, der zur Hälfte demokratisch und zur andern Hälfte eine brutale Diktatur ist?
Natürlich muss es Verhandlungen geben – ohne und nach Gaddafi. Verschiedene Teile des Landes, verschiedene „Stämme“, verschiedene politische Kräfte, die noch entstehen werden, müssen über die zukünftige Gestalt des Staates verhandeln, vorzugsweise unter der Schirmherrschaft der UN. Aber doch nicht mit Gaddafi??
Ein Argument lautet, es sollte alles den Arabern überlassen werden. Schließlich war es die „Arabische Liga“, die nach einer No-fly-Zone rief.
Leider ist das ein trauriger Witz.
Diese Arabische Liga ( tatsächlich die „Liga der Arabischen Staaten“) hat all die Schwächen und wenige der Stärken einer Koalition. Sie wurde unter britischer Ägide am Ende des 2. Weltkrieges gegründet als lose – sehr, sehr lose – Vereinigung von Staaten mit sehr verschiedenen Interessen.
In gewisser Weise stellt sie die arabische Welt so dar, wie sie ist, oder wie sie bis gestern war. Es ist eine Welt, in der zwei ( und vielleicht drei) kontroverse Trends am Werk sind.
Einerseits gibt es das ständige Verlangen der arabischen Massen nach einer arabischen Einheit. Dies ist real und tiefgründig und wird aus den Erinnerungen des vergangenen arabischen Ruhmes genährt. Dies findet seinen konkretesten augenblicklichen Ausdruck in der Solidarität mit dem palästinensischen Volk Arabische Führer, die dieses Vertrauen verraten haben, müssen jetzt den Preis zahlen.
Andrerseits gibt es die zynischen Kalkulationen von Mitgliederstaaten. Vom ersten Augenblick ihrer Existenz reflektierte die Liga das Labyrinth entgegengesetzter und konkurrierender Regime. Kairo konkurrierte mit Bagdad um die Krone der arabischen Führung, das alte Damaskus konkurrierte mit beiden. Die Haschemiten hassen die Saudis, die sie aus Mekka vertrieben. Und dann füge man diesem die unzähligen, ideologischen, sozialen und religiösen Spannungen hinzu – um ein vollständiges Bild zu bekommen.
Das erste größere Projekt der Liga – die Intervention 1948 im israelisch-palästinensischen Krieg – endete mit einem arabischen Desaster, vor allem weil die Armeen Ägyptens und Jordaniens versuchten, einander zuvor zu kommen, statt ihre Energien gegen uns zu konzentrieren. Das war unsere Rettung. Seitdem haben praktisch alle arabischen Regime die palästinensische Sache jedes für die eigenen Interessen benützt – mit dem palästinensischen Volk als Ball in einem zynischen Spiel.
Das gegenwärtige arabische Erwachen wird nicht von der Liga angeführt; von Natur aus richtet es sich gegen alles, was die Liga darstellt und vertritt. In Bahrain unterstützen die Saudis dieselben Kräfte, gegen die die Rebellen in Tripolis kämpfen. Als Faktor in der libyschen Krise wird die Liga am besten ignoriert.
Es gibt eine dritte Ebene inter-arabischer Beziehungen – die religiöse. Der Islam hält die arabischen Massen fast überall streng zusammen, aber wie jede große Religion hat der Islam tatsächlich viele Gesichter. Er bedeutet etwas anderes für die Wahabiten in Riad, für die Taliban in Kandahar, für Al-Qaida im Jemen, für die Hisbollahkämpfer im Libanon, für die Royalisten in Marokko und die einfachen Bauern an den Ufern des Nils. Aber es gibt ein unbestimmtes Gefühl von Gemeinschaft.
Deshalb empfindet jeder muslimische Araber, dass er zu drei verschiedenen , aber sich überschneidenden Identitäten gehört mit ungenau definierten Grenzen zwischen sich – dem „Watan“ – die lokale Nation wie Palästina oder Ägypten; dem „Ka-um“, die pan-arabische Identität, und der „Umma“, der Gemeinschaft aller islamischen Gläubigen. Ich bezweifle, dass es zwei Gelehrte gibt, die mit einander in diesen Definitionen übereinstimmen.
Da stehn wir also, Menschen im März 2011, nachdem wir unserm grundsätzlich menschlichen Instinkt gefolgt sind, eine bewaffnete Intervention gegen die drohende Katastrophe in Libyen anzustoßen.
Es war richtig, es war anständig, dies zu tun.
Mit gebührendem und aufrichtigem Respekt gegenüber all jenen, die meinen Standpunkt kritisierten, bin ich überzeugt, dass es der menschlichste war.
Im Hebräischen sagen wir: derjenige, der anfängt, eine gute Tat zu tun, muss diese auch beenden. Gaddafi muss beseitigt werden, dem libyschen Volk muss eine anständige Chance gegeben werden, um sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Genau so das syrische Volk, die Jemeniten, die Bahrainis und all die anderen.
Ich weiß nicht, wohin sie das führt – jeden in sein eigenes Land. Ich kann ihnen nur alles Gute wünschen – und hoffen.
Und ich hoffe, dass dieses Mal Napoleons Ausspruch sich nicht als richtig erweisen wird.
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Der Beitrag wurde unter www.uri-avnery.de am 02.04.2011 erstveröffentlicht. Alle Rechte beim Autor.