Sils, Engadin, Schweiz (Weltexpress). Man taucht ein in „Die Welt von gestern“, wie sie es außer in Stefan Zweigs Roman so nicht mehr gibt: Das „Waldhaus“, ein legendäres Fünfsternhotel als mächtige Festung hoch über dem traumhaft schönen Oberengadiner Hochtal, ein steinerner Zeitzeuge der Belle Epoque, komplett mit Teekonzerten im eleganten Salon, livrierten Kellnern – und kulturellen Ereignissen von einer Qualität, wie sie wohl kaum in einem Hotel weltweit angeboten werden. Mit Kultur war dieses Haus schon immer eng verknüpft – just an der Stelle wo die Straße steil ansteigt zu dem Felsen, auf dem das „Waldhaus“ inmitten eines herrlichen Lärchenwaldes hoch über einer Schlucht thront, hat in einem kleinen, romantischen Häuschen in acht Sommern (1879 – 188) „der Einsiedler von Sils Maria“, Friedrich Nietzsche, gewohnt und gearbeitet. Der Philosoph nannte diesen Ort „den lieblichsten Winkel der Erde“ – und dem kann man nur zustimmen, wenn man aufsteigt zu diesem einzigartigen Hotel.
Der Hotelier Urs Kienberger hat soeben, zum 111. Jubiläum seit der Erbauung dieses (immer noch im Eigentum seiner Familie stehende und von dieser geführten) Hotels eine umfangreiche Chronik verfasst. Und am Ende findet sich ein fünfseitiger „Auszug“ aus den Gästebüchern des Hauses: Dieses, an sich schon spannend, liest sich wie ein „Who is Who“ der Kultur, der Weltliteratur, Musikgeschichte und der Weltpolitik. Wer würde nicht gerne in einem Zimmer nächtigen, in dem in dem C.G. Jung, Otto Klemperer, Richard Strauß, Max Reinhardt, Thomas Mann, Theo Luchino Viscontidor W. Adorno, Georg Szell und mehrere Abkömmlinge der Rothschilds gewohnt hatten?
In diesem geschichtsträchtigen und doch so vitalen Haus gibt es viel Kultur – zu den Traditionen gehört der seltene Luxus, sich ein exzellentes Trio als Hausmusik zu halten, das zum Tee Kammermusik und am Abend in der Bar erstklassigen Jazz darbietet. Zum Jubiläum wurden in der Tennishalle, ja (als Stationentheater) im ganzen Haus Marthaler-Theaterinszenierungen und ganze Opern dargeboten.
Und jetzt, im September wo der Spätsommer in den milden Engadiner Frühherbst übergeht, dessen einzigartiges Licht der italienische Maler Segantini so sehr geschätzt hatte, wird unter dem Titel „Resonanzen“ in den Räumen dieses Hotels ein klassisches Musikfestival abgehalten, das seinesgleichen an Qualität (und Charme sucht): Ein wahrer kultureller Höhenflug auf 1800 Metern über Meer.
Die Protagonisten von „Resonanzen“ klingen nicht nur wie Weltstars -sie sind es auch. Sie könnten in allen großen Konzertsälen der Metropolen dieses Erdballs auftreten – und tun es auch. Gleich zu Anfang spielten Mitglieder des Zürcher Kammerorchesters. Und beim großartigen Abschlusskonzert in der stilvollen Hotelhalle, die flugs in einen Konzertsaal mit Fauteuils statt Stühlen verwandelt worden war, boten drei herausragende Solisten zwei wunderschöne und zugleich überaus anspruchsvolle Werke dar: Mozarts Divertimento für Streichtrio in Es-Dur KV 563, Beethoven Streichtrio G-Dur Op 9 Nr. 1 war. Als Beethoven in den 1790er Jahren in Wien seine epochalen Kammermusik-Werke schuf hatte er nur ein großes Vorbild: Eben Mozarts Divertimento – dessen längstes Kammermusikwerk überhaupt. Erst dann begann Beethoven, sich mit mit dem Genre Streichtrios zu beschäftigen.
Interpetiert wurden die beiden musikgeschichtlich so eng zusammengehörigen Werke von drei außergewöhnlichen Musikern: dem herausragenden deutschen Violinisten Daniel Sepec (u.a. Professor an den Musikhochschulen von Basel und Lübeck), dem virtuosen, aus Montreal stammenden Chellisten Jean-Guihen Queyras (u.a. Professor an der Musikhochschule Freiburg) und Tabea Zimmermann – eine der profiliertesten Bratschistinnen weltweit, die regelmäßig als Solistin mit vielen berühmten Orchestern auftritt und in Berlin als Hochschulprofessorin unterrichtet. Queyras war zuvor gemeinsam mit der glänzenden internationalen Konzertpianistin Silke Avenhaus in Werken von Brahms, Mendelssohn, Berg und De Falla zu hören.
Es ist abenteuerlich, wie sich dieses Hotel wie von Geisterhand in eine Vielzahl von stimmungsvollen Konzertsälen auflöst, während daneben der Grandhotel-Betrieb reibungslos weiter geht. Interessante Vorträge ergänzen die musikalischen Darbietungen. Zudem wird selbst für die kleinsten Gäste mit einem Kinder- und Familienkonzert (ab vier Jahren!) gesorgt. Aber auch außerhalb des Hotels wird diese kulturgeschichtlich so reiche Region erforscht – auf Wanderungen in dieser überwältigend schönen Landschaft mit ihren einzigartigen Dimensionen: Weite und Höhe, Berge zwischen die eine Kette von tiefblauen, glasklaren Seen eingebettet sind.
Ein kontrastreiches deutsch-sizilianisches Ehepaar, Mirella Carbone und Joachim Jung führen Teilnehmer des „Resonanzen“-Kulturfestivals, die sich nun plötzlich in eine gut beschuhte Wandergruppe mit Rucksäcken und Windjacken verwandelt haben, von Sils nach Maloja. Dabei lancierten die beiden kundigen Begleiter ein wahres Feuerwerk von kulturgeschichtlichen (aber auch geologischen und erdgeschichtlichen!) Informationen, gespickt mit herrlich amüsanten Anekdoten. Schier unglaublich, welches Konzentrat an Kreativität und Berühmtheit dieses herrliche Oberengadin hervorgebracht und aus den großen Städten Europas herangezogen hat – von Nietzsche über Siegmund Freud, von Segantini bis Alberto Giacometti. Und als Magnet im Mittelpunkt thront das weit mehr als hundertjährige „Waldhaus“ mit seiner eigenen Kulturgeschichte, die jedes Jahr mit dem „Resonanzen“-Festival eine reiche Wiedergeburt erfährt.