Berlin, Deutschland (Weltexpress). Volkstümliche Konzerte sind ein schöner Brauch bei den großen Orchestern Berlins. Zum Beispiel veranstaltet die Staatsoper Unter den Linden alljährlich auf dem August-Bebel-Platz »Staatsoper für alle», und die Berliner Philharmoniker bieten das jährliche Waldbühnenkonzert. Die Konzerte ziehen Zehntausende an. Der aufgeklärte Bürger weiß natürlich, dass die Sache, so schön sie ist, einen Haken hat, nämlich, dass sie von Riesenkonzernen gesponsert werden, im ersten Falle von BMW und im zweiten von der Deutschen Bank. Was wie ein Geschenk aussieht, ist über mehrere Stufen umgeleitetes Geld des Steuerzahlers, denn was die Riesen hier großzügig schenken, sind die seit der Schröderschen Steuerreform nicht gezahlten (gesenkten) Körperschaftssteuern. Was dem Staatshaushalt durch die Steuerreform fehlt (nach Berechnungen von Wirtschaftsinstituten 60 Milliarden Euro im Jahr), wird vom Steuerzahler ausgeglichen, zum Beispiel durch die von 16 auf 19 Prozent erhöhte Mehrwertsteuer, die bei jedem Einkauf und bei jeder Handwerkerleistung hereinkommt. Die Steuerpolitik ist natürlich nicht den Musikern anzurechnen, die die Strukturen nicht gemacht haben und die auf dem Platz mit Hingabe spielen und sich mit dem Beifall der Zehntausenden belohnt fühlen.
Einen ganz anderen Weg geht das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (DSO). Als echte Innovation hat es aus Kanada den Symphonic Mob übernommen – eine spontane, echt demokratische Form des gemeinsamen Musizierens. Ein Enthusiast oder eine Gruppe ruft dazu auf, sich auf einem Platz der Stadt mit seinem Instrument einzufinden und dort gemeinsam etwas zu spielen, was alle wollen und können. Volkskultur ohne amtliche Unterstützung.
Erstmals in Deutschland hat das DSO 2014 dazu aufgerufen. Es hatte Glück, weil es von Diplomaten unterstützt wurde, die die Erfahrung aus Kanada mitbrachten. So fand der erste Symphonic Mob im Auswärtigen Amt mit 400 Teilnehmern statt. Das war noch Musizieren ohne Gesang. Ab 2015 verlegte das Orchester das Konzert auf die Piazza der Mall of Berlin, nahe dem Potsdamer Platz. Der Ort hat den Vorteil, dass er überdacht, geräumig und mit Galerien ausgestattet ist, von denen aus viele Zuschauer das Konzert verfolgen können. Die Akustik regte dazu an, auch Stücke mit Chor zu spielen, zum Beispiel den Gefangenenchor aus der Oper »Nabucco» von Giuseppe Verdi (»Ohrwürmer» sind unverzichtbar). Seitdem spielt das Spontanorchester jedes Jahr in der Mall of Berlin, 2019 bereits zum fünften Mal. Die Zahl der Musiker wuchs von Jahr zu Jahr: 2015 waren es 500, 2016 und 2017 je 1000, und 2018 und 2019 je 1300 Musiker und Sänger. Wie sich diese Masse zusammensetzt, ist an Zahlen abzulesen. Zu beherrschen ist immerhin ein »Apparat» von 140 Violinen, 40 Bratschen, 69 Violoncelli, 9 Kontrabässen, 91 Querflöten, 38 Blockflöten, 77 Klarinetten, 36 Saxophonen, 31 Hörnern, 35 Trompeten, 3 Harfen, 5 Guitarren, 9 Akkordeons, 9 Melodica, einem Xanophon und so weiter. 2016 gesellte sich auch eine Bildhauerin mit einem Marmorblock hinzu. Zu rund 700 Instrumentalisten gesellten sich heuer 74 Musiker des DSO und zu 430 Laiensängern 57 Mitglieder des Rundfunkchors Berlin. Die jüngsten Musiker waren 7, die ältesten 85 Jahre alt.
Das notwendige »Gerüst» stellen die Musiker des DSO und die Sängerinnen und Sänger des Rundfunkchors. Musiker leiten gern Schüler an, und so ist es für sie Ehrensache, das Massenorchester zu stützen. Für die Dirigenten ist es jedes Mal eine Prüfung. 2016 leitete der Alt-Chefdirigent Kent Nagano das Orchester. Er ist ein Wegbereiter der Zusammenarbeit von Laienmusikern und -sängern mit Orchester- und Opernprofis. Und doch gestand er ein, dass ihm das Dirigat Herzklopfen bereitete. Hoch schlagen aber auch die Herzen der Laien, wenn sie ein berühmter Maestro dirigiert. Seit 2017 leitet der Chefdirigent Robin Ticciati die Konzerte. Mit seinem überschäumenden Temperament begeistert er die Leute. Dieses Jahr brachte er den Geiger Christian Tetzlaff mit, der mit dem Orchester die »Meditation» von Jules Massenet spielte.
Was sich improvisiert ansieht, macht sich nicht von allein. Abgesehen von der rein organisatorischen Arbeit wie Aufrufen, Anmeldungen entgegennehmen, Noten verteilen und Teilnehmer an die richtige Stelle dirigieren, müssen auch Noten in erleichterter Fassung erstellt und Proben abgehalten werden. In dieser Hinsicht hat sich das Orchester perfektioniert und bewältigt die Aufgabe glänzend. Andere Orchester, die in ihren Städten ebenfalls einen Symphonic Mob abhalten, können sich im Archiv des DSO mit den vereinfachten Noten bedienen. Symphonic Mob gab es in diesem Jahr auch in Lübeck, Coburg, Frankfurt an der Oder und in Bremerhaven. Mittlerweile sind es mehr als ein Dutzend Städte, wo Symphonic Mobs organisiert wurden. Drei Jahre lang erhielt das DSO eine Förderung der Bundeskulturstiftung, um die Zusammenarbeit mit anderen interessierten Orchestern zu entwickeln.
Man darf auch die Namen derer nennen, die in Berlin die Planung und die Organisation leisten – der Orchesterdirektor Alexander Steinbeis, der Orchestermanager Sebastian König, die Musikvermittlerinnen Lea Heinrich und Linda Stein, der Pressesprecher Benjamin Dries, der Orchesterinspizient Burkher Techel sowie die Orchesterwarte Shinnosuke Higashida und Kai Steindrescher. Anzumerken ist: Eine freiwillige Kollektivleistung ist auch undenkbar ohne die Unterstützung des Betriebsrats und des Orchestervorstands. Die Konzertmeister und die Stimmführer sind in ihrem Element. So entsteht ein gemeinsamer Wille und die freiwillige Beteiligung des Orchesters.
Die Begeisterung einerseits und der Geschäftsbetrieb andererseits schaffen auch Reibungen. Zum ersten Mal mussten in diesem Jahr Anmeldungen gestoppt und Interessenten abgewiesen werden, weil die Geschäftsleitung der Mall of Berlin , die die Piazza kostenlos zur Verfügung stellt, wegen Sicherheitsbedenken den Platz der Musiker begrenzte. An einem verkaufsoffenen Sonnabend müssen noch Wege offen bleiben, hieß es.
Wie soll man sich entscheiden: Teilnehmer abweisen oder alle zulassen? Warum dann nicht am Sonntag? Die Idee ist, sagt das DSO etwas abstrakt, allen Laienmusikern die Gelegenheit zu geben, das gemeinsame Musizieren »in die Mitte der Gesellschaft zu holen und so einen Raum der Begegnung und des aktiven Miteinander zu schaffen.» Musik von allen für alle. Dann freilich muss man alle, die wollen, mit offenen Armen empfangen. Das Spontanorchester muss offen sein. Spontan nur mit Laien? Die Berliner Erfahrung hat gelehrt: die Begleitung von Profis ist hilfreich, ja unentbehrlich, weil ein Musiker, ob Laie oder Profi, nicht nur Spaß am Spielen haben, sondern auch einen guten Klang erzeugen will. Das Streben nach Qualität darf jedoch die Spielfreude nicht dämpfen. Spontan muss spontan bleiben. Die Kunst der Orchesterleitung muss es sein, die richtige Balance zu finden. Die Leute sollen beseelt nach Hause gehen. Ein Schönheitsfehler ist zum Beispiel, wenn Robin Ticciati das Programm nur einmal durchspielen lässt. Dann ist nach zwanzig Minuten alles vorbei. Ein zweites Mal könnte die Freude noch steigern, wenn jeder es noch ein bißchen besser schaffte. Was nehmen die Musiker und Sänger mit? Wer aufgehört hatte zu musizieren, geht vielleicht wieder in ein Orchester oder in einen Chor.
Das Problem des offenen Musizierens müssen die Macher lösen. Doch sei es, wie es sei: das DSO hat in Berlin ein Stück Volkskultur geschaffen, sogar bereits mit sechsjähriger Tradition. Das Orchester macht Kulturpolitik, doch sie ist politisch nicht überfrachtet. RobinTicciati und sein Orchester sind nicht der Versuchung erlegen, nach landläufiger Mode den Symphonic Mob 2019 dem 30. Jahrestag des Mauerfalls zu widmen. Sie beschäftigten rein künstlerische Erwägungen. Ticciati überlegte, wie er das Programm mit dem Schwerpunkt der Spielzeit – Werke von Antonin Dvorák – verbinden könnte. Er wählte den Slawischen Tanz Nummer 2. Gut einzubinden war auch des großartige Angebot Christian Tetzlaffs, gemeinsam mit dem Spontanorchester zu spielen. Schließlich musste auch, wenn viele Sänger kommen wollten, große Oper her – also der Triumphmarsch und Chor aus »Aida» von Verdi!
Die Pflege dieser Form der Volkskultur – neben den Kinderkonzerten, neben der Arbeit mit Laien-Kammermusikern, neben den Schulbesuchen – dient dem Gemeinwohl. Das ist ein Verdienst. Ein Orchester oder ein Künstlerkollektiv kann ohnehin nicht leisten, was mächtige politische Parteien nicht zustande bringen, zum Beispiel das Theater- und Orchestersterben endlich zu stoppen. Doch es kann mit seinen Mitteln in den Musikliebenden die Hoffnung auf eine friedliche, harmonische Welt wecken oder einen Beitrag zu einem erträglichen Leben in einer antagonistischen Gesellschaft leisten.