Nun haben sich die beiden Macher an der Frankfurter Oper: Dirigent und Generalmusikdirektor Sebastian Weigle und Regisseurin Vera Nemirova viel vorgenommen. Wer hier vor 25 Jahren Wagners Berghaus/Gielen-Ring gesehen hatte, hat auf immer eine bestimmte Lesart verinnerlicht, die verstärkt wurde durch den Opernhausbrand am 12. November 1987, der die gesamte Ringausstattung vernichtete. Eine kleine, ja geradezu unheimliche Götterdämmerung. Am gedoppelten Mythos hatte auch der folgende Wernicke/Cambreling-Ring, eine Übernahme aus Brüssel, zehn Jahr später noch zu leiden. Das „Rheingold“ der Vera Nemirova hingegen ist völlig im Diesseits gelandet, was Lug und Trug, Versprechen und Nichthalten, Geiz und Ausbeutung sowie Liebe als Ware angeht. Sexueller Mißbrauch ist auch dabei, aber auch das Feiern des fertiggestellten Walhall durch die Götter in aller Öffentlichkeit, sprich: vor der ersten Reihe des Publikums im auf einmal hellerleuchteten Saal und mit Champagnergläsern sich zuprostend in der Proszeniumsloge. Wotan und Fricka im Abendanzug und Abendkleid selbstverständlich. Wo blieb der Champagner fürs Publikum? Zumindest für die im Abendanzug?
Das darf nicht so verstanden werden, als hätte diese Rheingoldaufführung nicht auch ihre Stärken und hinreißenden Momente und neue Sichten aufs Werk. Sie kommen nur nicht so zum Tragen, weil Vielerlei gegeneinander steht. Es beginnt spannend. Nachdem auch das Publikum und dieser Handyverbrecher verstanden hatten, daß die Musik längst losgegangen war und sich aus dem Urschlack Tropfen auf Tropfen und Ton auf Ton der Uranfang der Welt ereignet, auf der Bühne mit einem blauen wabernden, wachsenden Wasserloch als Video dargestellt. Toll. Dieses Wasserloch wird real schnell zum Innenkreis einer Scheibe, die sich aus drei weiteren konzentrischen Kreisen bildet, Kreise, die sich je nach Bedarf einzeln verstellen, sich drehen und so alle Gegebenheiten abdecken: oben in Götterburg, unten im Drehgestänge der Scheibe als Nibelheim unter der Erde und viel dazwischen.
Die erste Szene offenbart das Problem. Aus der Mitte, noch Wasserloch wie zur Erschaffung der Welt, hier aber nun der Rhein, gleiten die Rheintöchter hervor, die von Ingeborg Berneth in hellblauglitzernde halbdurchsichtige enganliegende Abendrobe gesteckt sind. Die drei Grazien Britta Stallmeister, Jenny Carlstedt und Katharina Magiera sehen wunderschön aus und sie singen bezaubernd. Alle drei und so richtig liebevoll und detailreich vom Opernorchester unter Sebastian Weigle begleitet. Das ist so ein Moment, wo man auch als Zuschauer versteht, wie sorgfältig und auf jedes Wort und jede Stimmfärbung bezogen musikalisch geprobt wurde. Einfach hervorragend. Aber was müssen sie tun, die Rheintöchter? Sich am Wasser, an der Luft erfreuen, ihre eigene Lust daran darstellen. Also müssen sie sich in ihren starren engen Kleidern räkeln, sich am Boden wälzen, wie Schlangen geschmeidig wirken, sich an die Brüste fassen, den erregenden und erregten Leib entlangstreichen, all das, was man aus den Sexanzeigen des nächtlichen Fernsehens einmal kannte und von dem Musikpapst Joachim Kaiser, so es auf die Bühne kommt, als ’Hausfrauensex` tituliert wurde.
Das wird noch schlimmer, als so ein Fescher im Businessanzug auf die Bühne kommt, der aus der wortwörtlichen Unterwelt kommende Alberich (Jochen Schmeckenbecher) und sich an den drei Leichtgeschürzten vergreifen will. Da hat das Necken und Schmachten, das Provozieren und Entweichen kein Ende. Was sonst als Mädchenspiel im Rheingold erscheint, nimmt hier die Dimensionen einer liebeskäuflichen Welt ein, in der der Freier aber um den Lohn seiner persönlichen Investition betrogen wird. Das kann Absicht sein, denn der sich – in unseren Augen – mißbraucht und gedemütigt fühlende Alberich – den Anzug haben sie ihm vom Leib gerissen und er robbt sich nun in der Skiunterwäsche über die Steine des Rheins – geht nun vollen Herzens auf den Abschwur „Nur wer der Mine Macht versagt, nur wer der Liebe Lust verjagt”¦“ ein: „So verfluch ich die Liebe.“
Jochen Schmeckenbecher führt einen in jedem gesungenen Ton psychisch angeknacksten und auf Rache sinnenden – „Erzwäng ich nicht Liebe, doch listig erzwäng` ich mir Lust“ – Alberich vor, der insgeheim zum Zentrum des Rheingolds wird, so daß man mittendrinnen meint, die ganze Oper müßte „Alberich“ heißen. Da sind aber nicht die Götter, sondern ihr Bote Loge vor. Kurt Streit kann dieser Paraderolle noch so viel Facetten zufügen, daß es eine Lust ist, ihn von luftiger Höhe auf niedergelassener Schaukel hinunterschweben zu sehen und seinem beweglichen, verführerisch gleisenden und zu Eis werden könnenden Tenor zuzuhören. Bizarr gekleidet, bringt dieser Loge auch etwas Androgynes mit. Ein Mittler zwischen den Welten. Bei beiden Figuren, die in Frankfurt das Stück tragen, hat man den Eindruck einer ausgezeichneten Probenarbeit, da auch ihre Zusammenspiel mit dem Orchester und ihre Wortverständlichkeit außerordentlich sind.
Das findet sich in allen weiteren Szenen nur zum Teil, ja öfter meint man, die Regiearbeit komme erst noch. Das bezieht sich am stärksten auf die Fricka der Martina Dike. Die muß sich dauernd an- und ausziehen und ständig ihre Oberteile wechseln, von der allein bei ihrem ersten Auftritt schon drei zur Verfügung stehen. Das Eigentliche, das Zwingende in ihrem Verhältnis zum Göttergatten Wotan kommt inszenatorisch nicht zum Ausdruck, wird aber doch folgend in der „Walküre“ zum Ausgangspunkt für viel Unglück. An dieser Rolle muß dringend gearbeitet werden, während man dem Gott Wotan, den Terje Stensvold einfach durch mächtig Dastehen und laut Singen Statur verleiht, ungerechterweise die mangelnde Stringenz eher verzeiht. Daß er mit Loge den törichten Alberich um das Gold, den Tarnhelm und den Ring bringt, gehört dazu.
Wiederum durchwachsen auch die Szenen um die Göttin der Jugend, Freia, und die die Götterburg erbauenden Riesen, die hier ebenfalls aufs Menschenmaß gestutzt sind. Sie sehen aus wie eine Nahkampftruppe im Terroristeneinsatz, wenigstens stürmen solche Männer im Fernsehen immer die Wohnungen. Hier sind sie zudem vervielfacht, was den gehabten Eindruck verstärkt, aber für uns im Rheingold keinen Sinn ergibt. Magnus Baldvinsson gibt den Fafner, der als Geldgieriger gleich auf den Vorschlag eingeht, statt der Freia das Gold als Baulohn zu akzeptieren, was Alfred Reiter als Fasolt nur ungern zuläßt und auch gleich mit dem Leben bezahlt, denn der Fluch des Alberich bezüglich des doppelt geraubten Goldes fängt an zu wirken. Diese beiden Rollen sind sowohl sängerisch wie auch szenisch überzeugend. Anders verhält es sich mit Freia, die von Barbara Zechmeister inniglich gesungen und leidenschaftlich gespielt wird. Allein ist sie mit der Deutung allein gelassen, die zum Schluß übrig bleiben soll. Niemals hat man sich bei anderen Aufführungen so Gedanken um die geraubte Freia gemacht wie hier, wo sie vom Zug der Riesen zurückgebracht wird im verdrückten Brautschleier und gedrücktem Gang, dem man die Vergewaltigung als Bild einfach ansehen muß. Es kommt noch schlimmer. Als ihr Verehrer und Peiniger Fasolt tot daniederliegt, schließt sie ihm zärtlich die Augen. Ja, das gibt es, die Umkehrrollen von Täter und Opfer, wo sich das Opfer schuldig fühlt und den Täter bemitleidet. Aber hier? Und vor allem, wo wir einer Liebesszene zusehen und eine Täter-Opfer-Beziehung überhaupt nicht thematisiert ist ?
So gibt es in dieser hervorragend musizierten und so textverständlichen gesungenen Aufführung – es gibt keine Ausfälle, auch der Donner von Dietrich Volle, der Froh von Richard Cox, der Mime von Hans-Jürgen Lazar und die Erda von Meredith Arwady sind ansprechend – immer wieder Momente, die geklärt und überarbeitet werden müssen. Denn mit dem Rheingold soll ja der Auftakt für das Welterklärungsmodell des Rings geschaffen werden. Und die Ansätze dazu sind ja auch zu erkennen, wenngleich das Bühnenbild so manches aufzwingt, beispielsweise, daß die Darsteller, die in einer Szene keine Rolle spielen, am Rand der Scheibe uns den Rücken zuwenden. Anwesende Abwesende. Dann muß man aus dieser Situation aber auch Kapital schlagen und sich dazu etwas überlegen.
Andererseits ist das ja kein schlechtes Zeichen, daß man nun seitenlang weiterschreiben könnte über Gelungenes, Zwiespältiges und albern Modisches in dieser Premiere des Rheingolds in Frankfurt, dessen Besuch also viel Stoff zum Weiterdenken und Sinnieren bringt. Doch verwunderte uns selbst am meisten, daß die Frage, wie es nun weitergeht nach dem Einzug der Götter in Walhall gar nicht aufkam, weder wurden solche Fragen in der Inszenierung gestellt, noch fragten wir uns selbst. Dabei hatte Richard Wagner 1852 den Prosaentwurf zum Rheingold verfaßt, weil er den schon fertigen weiteren Teilen den fragenden und erklärenden Anfang vornewegstellen wollte. Bis zum Ende dieses Ringes und den Zyklen im Juni 2012 ist ja auch für dieses Rheingold noch Zeit. Man sollte sie nutzen.
Nächste Aufführungen am 7., 15., 22. Mai sowie 3., 6. und 12. Juni 2010.