Vor der Debatte wurde ich gewarnt, Abu Sitta sei der extremste der Flüchtlinge, ein berüchtigter Israelhasser. Als ich an die Reihe kam, sagte ich, ich müsse wählen zwischen einer mündlichen Antwort oder dem Lesen meines vorbereiteten Textes. Ich entschied mich. meinen Text zu lesen und versprach ihm, ihn zu einem privaten Essen einzuladen und mit ihm seine Punkte zu diskutieren.
Als ich meinen Text gelesen hatte, erinnerte mich Abu-Sitta an dieses Versprechen. Wir aßen in einem ruhigen Pariser Restaurant zu Mittag und ich fand, dass Abu-Sitta eine sehr sympathische Persönlichkeit ist. Rachel, meine Frau, war tief bewegt von dem Bericht seiner Flucht als Junge während der Nakba. Ich auch.
Abu Sitta, jetzt ein sehr wohlhabender internationaler Bauunternehmer, hat sein Leben dem Elend der palästinensischen Flüchtlinge gewidmet, und vielleicht ist er der beste Experte über die Nakba in der Welt.
In dieser Woche erhielt ich von ihm einen Brief, bei dem ich die Notwendigkeit fühlte, ihn hier wörtlich widerzugeben:
* * *
Lieber Uri,
ich las in Haaretz mit großem Interesse Dein Interview über Dein so ereignisreiches Leben. Du hältst seit den frühen Fünfzigern an Deinen Prinzipien fest, nachdem Du herausgefunden hattest, die alte Doktrin wäre nicht mehr durchführbar und nicht moralisch.
Ich erinnere mich lebhaft an unser Gespräch beim Mittagessen in Paris mit Deiner lieben Frau Rachel – gesegnet sei ihre Seele.
Du beschriebst Deine frühen Jahre als junger Deutscher mit dem Namen Helmut; dass du dich später der Terrororganisation Irgun angeschlossen hast und ein Maschinengewehr auf einen Hügel bei Hulayqat getragen hast (wo jetzt ein Denkmal steht, um die gefallenen Soldaten zu „ehren“). wie du das Menschenmeer vertriebener Flüchtlinge beobachtetest, die in Richtung Gaza entlang der Küste liefen.
Ich erzählte Euch auch meine Geschichte: wie ich ein Flüchtling wurde, ohne je einen Juden gesehen zu haben, und wie ich Jahre verbrachte, um herauszufinden, wer es tat, den Namen, das Gesicht und das Bataillon.
Ich erinnere mich, wie ich Dich fragte „wärest du mit meiner Rückkehr in mein Haus, einverstanden, wenn es neben dem Deinigen stünde?“ Du sagtest nachdrücklich NEIN.
Ich schrieb das alles in meinen Memoiren, die in diesem Jahr in Europa und Amerika erscheinen werden.
Ich erinnere mich an eine ähnliche Geschichte mit einem anderen Schluss. Ich spreche von Dr. Tikva Honig-Parnass („Reflexionen einer Tochter der 48er-Generation“). Es ist ein bewegender Bericht, wie Wahrheit und Realität sich ihr darboten, als Palmach-Soldatin mit der schwerwiegenden Ungerechtigkeit, die man den Palästinensern antat. Seitdem setzt sie ihre Energie ein um deren Rechte zu verteidigen, einschließlich des Rückkehrrechtes.
Ich sah weder Spur noch Hinweis auf einen Rückzieher in Deinem Interview, was ich gehofft hatte, nämlich die Anerkennung des Rückkehrrechtes oder Sühne und Heilung der größten Sünde: die ethnische Säuberung der Palästinenser. Wäre es nicht die passende letzte Station eines langen Lebens (und ich wünsche Dir ein längeres), wenn du wieder auf der Hügelkuppe stehen und rufen würdest, dass es alle hören – Deine Lebenserfahrungen zusammen fassend: die Flüchtlinge müssen zurückkehren, wir müssen die Sünde der ethnischen Säuberung bereuen?
Ist diese Frage an einen Mann mit Prinzipien, wie Du es bist, zu viel, dies zu tun? Ich frage dies jetzt nicht im Namen der Palästinenser, denn zweifellos WERDEN sie zurückkehren. Ich hoffe, dass dies die Errungenschaften Deines Lebens im israelischen Milieu krönen würde.
Wie ich wiederholt schrieb: die Geschichte der Juden wird nicht mehr von dem angeblichen Töten Christi markiert noch von den Brutalitäten der Nazis im 2. Weltkrieg, sondern wird unauslöschlich von dem markiert, was sie den Palästinensern absichtlich und dauernd angetan haben, ohne schlechtes Gewissen, Bedauern oder Rechtsmittel. Dies reflektiert jene Seite des menschlichen Geistes, der aus der Geschichte nichts lernt und der von seiner eigenen moralischen Haltung ablässt.
Mit freundlichen Grüßen
Salman Abu Sitta
* * *
Lieber Salman,
ich war von diesem Brief tief bewegt. Ich brauchte Tage, bis ich den Mut fand, auf diesen Brief zu antworten. Ich versuche es so ernsthaft wie möglich.
Als ich im Krieg 1948 verwundet wurde, entschied ich mich, meine Lebensaufgabe sollte der Frieden zwischen unsren beiden Völkern sein. Ich hoffe, dass ich mein Versprechen gehalten habe.
Nach einem so langen und bitteren Konflikt Frieden zu machen, ist eine moralische und politische Bemühung. Oft liegt da ein Widerspruch zwischen den beiden Aspekten.
Ich habe großen Respekt vor den paar Leuten in Israel, die wie Tikva sich vollkommen der moralischen Seite der Flüchtlingstragödie widmen, egal, welche Folge dies für die Chance des Friedens hat. Meine eigene moralische Einstellung sagt mir, dass der Frieden das erste Ziel sein muss, vor und über allem anderen.
Ich erinnere mich auch lebhaft an unser Gespräch in Paris und schrieb darüber im 2. Band meiner Memoiren, die im Laufe dieses Jahres auf Hebraeisch erscheinen werden. Es mag für Leser interessant sein, unsere beiden Beschreibungen desselben Gesprächs zu vergleichen. Über die Szene in der Nähe von Hulayqat habe ich im 1. Band geschrieben, der schon auf Hebräisch herauskam.
Der Krieg von 1948 war eine schreckliche menschliche Tragödie. Beide Seiten glaubten, es sei eine existentielle Schlacht, dass ihr Leben an einem Faden hing. Es wird oft vergessen, dass ethnische Säuberung (den Terminus gab es damals noch nicht) von beiden Seiten praktiziert wurde. Unsere Seite besetzte große Gebiete und schuf so ein riesiges Flüchtlingsproblem; während es der palästinensischen Seite gelang, nur ein kleines Gebiet zu besetzen, wie die Altstadt von Jerusalem und den jüdischen Ezion-Siedlungsblock bei Bethlehem. Aber kein einziger Jude blieb dort.
Der Krieg war, wie später der bosnische Krieg, ein ethnischer Krieg, in dem beide Seiten versuchten, ein größtmögliches Stück Land zu erobern – OHNE Bevölkerung.
Als Augenzeuge und Teilnehmer kann ich die Tatsache bezeugen, dass die Ursprünge des Flüchtlingsproblems extrem kompliziert sind. Während der ersten sieben Monate des Krieges waren die Angriffe auf die arabischen Dörfer militärisch absolut notwendig. Zu dieser Zeit waren wir die schwächere Seite. Nach einer Anzahl sehr grausamer Schlachten drehte sich das Rad, und ich glaube, dass eine absichtliche Politik der Vertreibung von der zionistischen Führung ergriffen wurde.
Aber die wirkliche Frage ist: Warum wurde den 750 000 Flüchtlingen nach den Feindseligkeiten nicht erlaubt, nach Hause zurückzukehren?
Man muss sich an die Situation erinnern. Es war drei Jahre, nachdem die rauchenden Kamine von Auschwitz und den anderen Lagern kalt geworden waren. Hunderttausende von elenden Überlebenden waren in überfüllten Flüchtlingslagern in Europa und wussten nicht wohin, außer in das neue Israel. Sie wurden hierher geführt und eilig in die Häuser der geflohenen Palästinenser gebracht.
All dies löschte unsere moralische Verpflichtung nicht aus, der schrecklichen Tragödie der palästinensischen Flüchtlinge ein Ende zu bereiten. 1953 veröffentlichte ich in meinem Magazin Haolam Hazeh einen detaillierten Plan für die Lösung des Flüchtlingsproblems. Es schloss (a) eine Entschuldigung bei den Flüchtlingen ein und im Prinzip auch die Anerkennung des Rückkehrrechts, (b) die Rückkehr und Wiederansiedlung einer beträchtlichen Zahl, (c) eine großzügige Wiedergutmachung für den ganzen Rest. Da die israelische Regierung sich aber weigerte, die Möglichkeit der Rückkehr auch nur von einzelnen Individuen in Betracht zu ziehen, wurde der Plan nicht einmal diskutiert.
Warum stehe ich nicht auf einer Hügelkuppe und rufe nach der Rückkehr aller Flüchtlinge?
Frieden wird zwischen Parteien gemacht, die beide bereit sind, einzuwilligen. Es gibt absolut keine Chance, dass die große Mehrheit der Israelis mit der Rückkehr aller Flüchtlinge und ihrer Nachkommen(6 oder 7 Millionen) einverstanden ist. Es wäre etwa dieselbe Anzahl wie die Anzahl von Israels jüdischen Bürgern. Dies wäre das Ende des „Jüdischen Staates“ und der Beginn eines „bi-nationalen Staates“ gegen den 99% der Israelis sind. Dies könnte nur durch Krieg erreicht werden, der augenblicklich wegen Israels unendlich militärischer Überlegenheit, einschließlich Nuklearwaffen, unmöglich ist.
Ich kann auf der Hügelkuppe stehen und rufen – aber das würde keinem den Frieden (und einer Lösung) nur einen Schritt näher bringen.
Meiner Ansicht nach ist das Warten auf eine Lösung in hundert Jahren, während der Konflikt und die Misere weitergehen, nicht wirklich moralisch.
Lieber Salman, ich habe aufmerksam Deiner Darlegung zugehört.
Du meinst, Israel könnte leicht all die Flüchtlinge im Negev aufnehmen, der fast leer sei. Das stimmt.
Die überwältigende Mehrheit der Israelis würde dies zurückweisen, weil sie äußerst entschlossen ist, eine große jüdische Mehrheit in Israel zu haben. Aber ich frage mich auch selbst: Was ist die Logik darin?
Als ich mich während des Krieges 1982 mit Yassir Arafat in Beirut traf, besuchte ich auch mehrere palästinensische Flüchtlingslager. Ich fragte viele Flüchtlinge, ob sie nach Israel zurück wollten. Die meisten sagten, sie wollten zurück in ihre Dörfer (die aber seit langem zerstört sind), aber nicht irgendwohin in Israel.
Welchen Sinn hat es, sie den harten Bedingungen der Wüste auszusetzen – in einem zionistisch dominierten und hebräisch sprechenden Land, weit weg von ihren ursprünglichen Wohnstätten? Würden sie das wollen?
Arafat und seine Nachfolger begrenzten und begrenzen ihr Ziel auf eine „gerechte und beiderseitig übereinstimmende Lösung“, die der israelischen Regierung ein Vetorecht gibt. Das bedeutet praktisch, höchstens die Rückkehr einer symbolischen Anzahl.
Mein letzter Vorschlag ist: der israelische Präsident möge sich entschuldigen und das tiefe Bedauern des israelischen Volkes zum Ausdruck bringen, für ihren Anteil an der Schaffung der Tragödie und ihrer Dauer.
Die israelische Regierung muss das moralische Recht der Rückkehr der Flüchtlinge anerkennen.
Israel sollte jedes Jahr die Rückkehr von 50 000 Flüchtlingen zehn Jahre lang anerkennen (Damit bin ich fast allein in Israel, der diese Anzahl verlangt. Die meisten Friedensgruppen würden dies auf 100 000 zusammen reduzieren).
Alle anderen Flüchtlinge sollten Kompensationen erhalten, in etwa nach den Kompensationen, wie sie Deutschland jüdischen Opfern gezahlt hat (natürlich kein Vergleich).
Mit der Gründung des Staates Palästina würden alle Flüchtlinge palästinensische Pässe erhalten und in der Lage sein, in ihrem Lande zu siedeln.
In nicht zu weiter Zukunft, wenn die beiden Staaten, Israel und Palästina, Seite an Seite neben einander leben, mit offenen Grenzen und mit ihren Hauptstädten in Jerusalem – vielleicht innerhalb des Rahmens einer regionalen Union – wird das Problem seinen Stachel verlieren.
Es fällt mir schwer, diesen Brief zu schreiben. Für mich sind die Flüchtlinge kein abstraktes „Problem“, sondern menschliche Wesen mit menschlichen Gesichtern. Aber ich will Dich nicht anlügen.
Ich wäre mir eine Ehre, neben Dir (selbst in der Negev-Wüste) zu leben.
Salamaat,
Uri
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel (Briefwechsel) von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Die Erstveröffentlichung erfolgte unter www.uri-avnery.de am 19.05.2014. Alle Rechte beim Autor.