Ihrem Titel wird die Dokumentation im doppelten Sinne gerecht. „Wiegenlieder“ wirkt so einschläfern wie eine Überdosis des abendlichen Gesangguts. An essentielle Themen wie „Geborgenheit, Wärme, Einsamkeit, Ausgrenzung, Heimat und Fremde“ soll das Aufspüren der „Wiegenlieder“ aus der Kindheit der Befragten laut Pressematerial rühren. Doch an emotionaler Eindringlichkeit fehlt es den Szenen. Keines der Einzelschicksale, welches angestoßen durch die Frage der Regisseure zu Tage tritt, bewegt. Dazu sind die Geschichten und Erinnerungen zu banal. Das mag sich hartherzig lesen, trifft jedoch den Kern des Dokumentarfilms. Manche der Protagonisten haben kein Schlaflied vorgesungen bekommen. Je nach persönlichem Empfinden kann dies für die Betroffenen traurig gewesen sein. Eine hochdramatische, zutiefst traumatisierende Erfahrung dürfte das Fehlen eines Einschlafständchens hingegen nicht sein. Traumatisierende Folgen könnte ebenso gut das Vorsingen haben. Nicht jede Mutter hat die Stimme einer Billy Holliday. Und was, wenn Mama am Liebsten Musikantenstadl guckt und die Kinderlein zur Schlafenszeit an ihrer Begeisterung teilhaben lässt? Bereits die Eingangsfrage enthüllt die Beschränktheit des Rahmens, in welchem die Filmemacher sich ihrer Thematik nähren. Wieso überhaupt nur „Mutter“? Auch Väter singen Wiegenlieder. Ebenso wie Cousins, Großväter, Schwestern oder Babysitter. Feindts und Trampes „Wiegenlieder“ kennzeichnet jedoch nicht Vielfalt, sondern Einfalt.
Der Vizepremier Tschechiens, der von taubstummen Eltern großgezogene Komponist Helmut Oehring und die Sängerin Jocelyn B. Smith zählen zu den Gesprächspartnern, welche sich vor der Kamera an „Wiegenlieder“ und deren individuelle Bedeutung für sie persönlich erinnern. Niemals gelingt es den Regisseuren jedoch, bei den gemeinsamen Gesprächen auf eine tiefer emotionale Ebene vorzudringen. Ob tragisch oder angenehm, die Jugenderinnerungen besitzen in dem Rahmen, in welchem die Dokumentation sie zeigt, ein unangenehm melodramatisches Air. Die angesprochenen Passanten auf den Straßen Berlins blicken zärtlich berührt oder zärtlich bewegt. Schlimmstenfalls fangen sie an, ihre persönliche Interpretation der unterschiedlichsten Kinderlieder aus dem Gedächtnis zu improvisieren. Unterhaltsam werden die „Wiegenlieder“ nur, wenn es bei der Interpretation der Befragten zu großen und kleinen Abänderungen der Texte kommt. Da kommt ein Vogel schon mal aus Russland geflogen, im Schnabel nicht von der Mutter, sondern aus Moskau einen Gruß. Soviel Aufmerksamkeit für falsches Vorsingen bekam man selbst zuletzt in der dritten Klasse als Grundschülerin. Und wo kriegt man dergleichen als Erwachsener, noch dazu, ohne sich anschließend mit einer schlechten Zensur an den Sitzplatz schleichen zu müssen?
Fünfzehn Minuten Ruhm, Andy Warhol hat ´s versprochen. Auch wer nach „Der Mond ist aufgegangen…“ nicht mehr weiter weiß, hat sie verdient. Zugegeben, man könnte auch vor der Handykamera etwas vorsingen und das ganze auf YouTube stellen. Aber welcher YouTube-Clip schafft es schon bis ins Panorama der Berlinale, noch dazu im Jubiläumsjahr? Vorzuziehen wäre ein solcher Clip dem ermüdenden Panorama-Beitrag dennoch. Zumindest, wenn er nicht 98 Minuten dauert.
Titel: Wiegenlieder
Berlinale Panorama
Land/Jahr: Deutschland 2009
Genre: Dokumentarfilm
Regie und Buch: Tamara Trampe, Johann Feindt
Mit: Detlef Jablonski, Jocelyn B. Smith,Helmut Oehring, Santos, Apti Bisultanov
Laufzeit: 98 Minuten
Wertung: *