DDR-Geschichte (und der Umgang mit ihr) bietet davon alles, neben- und übereinander. Sie wurde unmittelbar nach ihrem Ende museal eingeschreint. Zugleich ist sie der lebendigste Kampfplatz. Was hier vorliegt, ist weder das eine noch das andere. Was hier vorliegt, sind Bilder, die auftauchen, als wären sie neu. Sie sind nicht „aufgearbeitet“. Wir nehmen sie so, wie sie in Kisten und Kasten aufbewahrt wurden. Immer wieder einmal hat ein Licht, ein Moment davon produktive Kraft entfaltet. Nun geht der Blick erneut darüber hin, ein anderer Fokus stellt sich ein, neue Details gewinnen Gewicht.“ (Uwe Kolbe, zit. aus „Vinetas Archiv. Aus persönlichen Beständen“, in: Die andere Leipziger Schule – Fotografie in der DDR, S. 55)
Uwe Kolbe formuliert, was die Fotografen vielleicht umtreibt, wenn sie Kisten und Kasten öffnen. Uns ihre Schätze darbieten. In der Kunsthalle Erfurt war knapp zwei Monate lang zu sehen, was da geborgen wurde. Auf mehreren Ebenen zeigte das Museum am Fischmarkt bis Ende Januar 2010 Fotografie aus den Werkstätten der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB). Nur hier konnte ein akademisch-künstlerischen Abschluss als Diplomfotograf bzw. Diplomfotografiker erlangen, wer solches in der DDR studierte. Der Begriff „Leipziger Schule“ richtete sich zwar auf das Wirken von Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke und Bernhard Heisig an der HGB, doch auch im Bereich Fotografie entwickelte sich unter dem Wirken dort lehrender Künstler wie Arno Fischer, Evelyn Richter, Wolfgang G. Schröter und Helfried Strauß eine eigene „Schule“. Benutzt wurde der Begriff für die Fotografie kaum, es mangelte an Konkurrenz fotografischer Schulen. In den 1980er Jahren wuchs mit Persönlichkeiten wie Gundula Schulze, Erasmus Schröter, Maria Sewcz oder Jens Rötzsch eine Fotografengeneration heran, die eigene Formsprachen entwickelte. Beide „Generationen“ schufen Bilder vom Land und von den Menschen, experimentierten und erschufen sich neue Welten aus Splittern des Vorgefundenen.
Die Ausstellung ist vorbei, der Katalog bleibt. Damit haben wir nicht nur die Möglichkeit, in dieser einzigartigen Bilderwelt zu stöbern, sondern uns dem Kontext von Entstehung und Herausbildung der einzelnen Künstlerpersönlichkeiten und ihrer Arbeiten zu nähern. Im einleitenden und wunderbar erhellenden Text von Kurator Kai Uwe Schierz wird der Begriff „Schultradition“ als erklärungsbedürftig bezeichnet, da maßgebliche Vertreter der Autorenfotografie wie Evelyn Richter und Arno Fischer erst Anfang der 1980er Jahre über einen längeren Zeitraum in Leipzig als Lehrkräfte verpflichtet wurden. Ihr Einfluss war dennoch prägend. Evelyn Richter hatte sich zuvor u.a. als freischaffende Fotografin und Werbefachfrau durchschlagen, nachdem sie 1956 vorzeitig von der Hochschule exmatrikuliert worden war – sie beantragte damals unbotmäßig ein Freisemester, was sie mit den starken politischen Vorgaben im Studienbetrieb begründete. Nach Schierz wurde sie nun zu der Instanz in fotokünstlerischen Fragen und zur wohl wichtigsten Anlaufstelle für Studierende der HGB. Neben Arno Fischer, der in Berlin und Leipzig formend lehrte, entwickelte Wolfgang G. Schröter in Leipzig frühes Engagement für die Farbfotografie. Lehrkräfte wuchsen nach, Helfried Strauß trägt ab 1978 die Ideen der Life-Fotografie, vor allem aber die Ästhetik des Sehens á la Cartier-Bresson in die Kreise der jüngeren Studierenden hinein.
Was wurde von den Leipziger Lehrenden und Lernenden fotografiert? Die an der Schule vermittelte ästhetische Haltung nahm tendenziell Abstand von subjektiven Perspektiven und ausgeprägten Handschriften, wie Schierz beschreibt. Vielmehr wurde das Moment der künstlerisch vermittelten Augenzeugenschaft ästhetisch kultiviert. Nehmen wir als Beispiel die Werkgruppe „die Fähre“ von Helfried Strauß. Kai Uwe Schierz erforscht in seinem Essay „Höfgen tags – Leipzig nachts“ die Entstehung dieser Reihe im Vergleich zu Erasmus Schröters Diplomarbeit; Infrarotaufnahmen von nächtlichen Szenen Leipzigs. Helfried Strauß traf bei einem Osterspaziergang zur Klosterruine Nimbschen Anfang der 80er Jahre auf eine Personenfähre über die Mulde zwischen Höfgen und Grimma. Nicht nur die Stille beim Übersetzten beeindruckte ihn, sondern vor allem die Begegnung mit der Fährfrau. In den folgenden Jahren entsteht sukzessive ein soziales Porträt der Fährfrau Brigitte, einer starken, offenen und ausgeglichenen Persönlichkeit. Die Fährfrau erscheint auf den schwarz-weiß Aufnahmen kraftvoll, behände und empfindsam zugleich. Sicher im Umgang mit Boot und Stecken, entspannt beim Gleiten über den Fluss. Sie lächelt aussteigenden Soldaten hinterher und lenkt so ruhig, dass ein Schwarm flauschiger Jungschwäne dem Boot folgt. Es sind idyllische Bilder, selbst wenn Brigitte eine Gans schlachtet.
Eines der schönsten Porträts dieser Reihe zeigt Brigitte eingeschlafen. Sie sitzt in einem Sessel vor dem Haus, die gekreuzten Beine liegen auf einem zweiten Stuhl. Der ganze Körper ist weggerutscht in den Schlaf, der Kopf auf die Brust gesunken, die Hände über dem Bauch verschränkt. Auf ihren Knien sitzt ein schwarzes Huhn. Bei längerer Betrachtung erschließen sich die vielfältigen Stoff-Blumenmuster als Impulsgeber, als ruhelose Elemente im Gegensatz zur schlafenden Frau und dem reglosen Huhn. Ist rechts im Bild der Ansatz eines kräftigen Baumes zu sehen, im Hintergrund die ruhige Wand des Hauses mit einem geöffneten Fenster, so dominiert im Bildzentrum die Schlummernde. Sie trägt einen Kittel mit Blumenaufdruck. Es scheint sich um Blüten eines Dornenbuschs auf hellem Untergrund zu handeln. Darunter sehen wir den gewürfelten Rock und den blumenbedruckten Stoff des Sesselschoners. Am linken Bildrand hängt das Ende einer Tischdecke mit Stillleben ins Geschehen, eine Vase, Kerzenständer – und Blumen sind darauf auszumachen. Im Fenster schließlich, das die obere Bildhälfte bestimmt, steht ein winziges Blumentöpfchen, das sich über den Sims neigt, eine große Blüte zeigt sich dem Betrachter. Vermutlich handelt es sich um eine Kunstblume. Hinter dem geschlossenen Fensterflügel wird die Gardine sichtbar, die natürlich florale Muster trägt.
Andere Aufnahmen zeigen Brigitte mit ihren sechs Kindern am Tisch, oder strickend mit einer Tochter, die ihr Kind stillt. Helfried Strauß kommt mit folgendem Zitat zu seiner im Katalog abgebildeten Werkreihe „Die Fähre“ zu Wort; „Meine drei Jahre an der Fähre haben mein Vertrauen in die reine Beobachtung als die mir gemäße Arbeitsweise als Fotograf endgültig gefestigt… Nun fuhr ich immer wieder, mit wachsender Begeisterung, an den gleichen Ort und die Bilder mehrten sich auf beglückende Weise. Ohne Fährfrau Brigitte, das eigentliche Kraftzentrum meiner Observation, wäre das allerdings undenkbar gewesen: Ein Mensch im Mittelpunkt.“
Weitere Essays im 255 Seiten starken Katalog beschäftigen sich u.a. mit der Emanzipation der Fotografie in den 80er Jahren, den Medienreaktionen, Künstlerischen Aktionen, Fotografengruppen in der DDR und werden von den poetischen Reflexionen Uwe Kolbes abgerundet. Der Bildteil umfasst knapp 200 Seiten. Mit frühen Farbfotos Wolfgang G. Schröders wird der Blick jenseits des offiziellen Bildes des real existierenden Sozialismus eröffnet. Seine inszeniert wirkenden Momentaufnahmen haben Schwächen, Knicke, die amüsieren. Über Arno Fischers eher heitere und Evelyn Richters eher melancholische Stadtlandschaften mit Mensch gelangt der Betrachter in die achtziger Jahre. Helfried Straußens Brigitte am Ruder, Werner Mahlers Aufnahmen aus einem Thüringer Dorf, Thomas Kläbers Bauernbilder nebst springenden Katzen sind atemberaubend. Ein Pferd vor einem Kraftwerk, das sich wohlig im Grase wälzt!
Zurück in die Stadt, Margit Emmerich zeigt die Serie „Wohnzimmer“ als Bestandsaufnahme; „Privater Gestaltungsspielraum in einer Zeit der Beschränkungen – wie richten verschiedene Menschen sich ein?“ Farbig, einfallsreich oder beliebig, wie zu allen Zeiten entspricht die äußere Haut dem inneren Vermögen. Im Kontrast dazu zeigt Thomas Steinert Menschen vor und in Gebäuden, inszeniert die Einmaligkeit des Moments, hält die Eisläuferin mit ausgestrecktem Bein vor der Silhouette des Neubaugebietes fest. Peter Langner gelang Mitte der siebziger Jahre eine aufregende Serie zu einem Haus in der Leipziger Kirchhofstraße, die mit Strafverfolgung bei Veröffentlichung bedroht war. Zu Recht, denn was dieser nur durch Dreck und Putzreste zusammengehaltende Steinhaufen vom Leben in der DDR erzählt, ist exemplarisch. Dennoch sind seine Bewohner Individuen, die feiern, stolz sich und ihre Körper herzeigen, ein Tänzchen in Clogs und baren Fußes wagen, wo alles krümelt und zerbirst. Großartig! Rudolf Schäfer, Gundula Schulze, Erasmus Schröter – an ihnen wächst das Bild der 80er Jahre eines untergehenden Landes. Der Mensch darin beginnt, sich zu wehren, sich seines Körpers und seiner selbst bewusster zu werden – sich in Sinnlichkeit zu verlieren „gegen eine lähmende Langeweile“, wie Tina Bara es formuliert. Ihre Akt-Porträts erzählen von dieser Freiraumsuche, die sich zugespitzt bei Florian Merkel und Klaus Elle fortsetzt. Matthias Hoch schließlich fotografiert Ende der 80er Jahre eine Farbserie zu öffentlichen Funktionsräumen, hier springt uns noch einmal das verwaschene hellblau der U-Bahntunnel am Berliner Alexanderplatz an, dekoriert mit den knallroten Entwerter-Knipskästen, futuristische Kachelmosaiken in Halle, metallicfarbene Telefonzellen in Dresden mit dem mannshohen Telefonhörersymbol obenauf.
Abschließend sei Gerhard Gäbler zu erwähnen, der die letzten Momente der DDR und das Hinübergleiten in ein vereinigtes Deutschland auf „schultypische“ Weise festgehalten hat, hier finden sich späte Punks in Leipzig, ein 1.Mai – Tribüneneindruck und das anrührende Bild „Vorabend des 40. Jahrestages der DDR, Leipzig, 6. Oktober 1989“ – Wir alle wissen, was am nächsten, vor allem, was drei Tage später in Leipzig geschah. Das konnte Gäbler nicht wissen, als er die drei Frauen auf einer Straße einfing, die auf die andere Seite hasten. Schräg aufgenommen, neigen sich die Körper nach links, am linken Bildrand schreitet eine Dame zügig voran, sie trägt silberglänzende Abendschuhe und einen weißen Mantel, der Wind stellt die frische Dauerwelle auf, sie lächelt mit gesenktem Blick. Im Vordergrund birgt eine Frau mit verwehtem Haar, angetan mit Kittel, Strickjacke und Schlappen, einen Schatz, den behutsam vor dem Körper trägt – ein Bündel Bananen! Mit beiden Händen schützt sie die wertvolle Fracht und eilt voraus, flankiert von einer ähnlich gekleideten Frau, vielleicht eine Freundin, die die Zeit verkürzen half bei stundenlangem Schlange stehen”¦
Im Anhang dieses einzigartigen und wirklich berührenden Bildbandes finden sich Biografien und Abbildungsnachweise zu den gezeigten Arbeiten und Künstlern. Einzigartig vor allem deshalb, weil eine Werkschau der Leipziger Schule bisher nicht derart fokussiert zu sehen und nach zu betrachten war. Im Katalog „Fotografie. Leipziger Schule“ von 1992 sind bereits viele der hier Gezeigten vereint, auch der 2008 erschienene Band zur Ausstellung (Zwickau, Cottbus) „Mit Abstand – ganz nah. Fotografie aus Leipzig“ nähert sich dem Thema, widmet aber der Zeit nach 1990 die größere Aufmerksamkeit.
Uns bleibt, die Fragen offen zu lassen, die Gewichtung dem Einzelnen zuzumuten, getreu nach Uwe Kolbe; „Unser Gedächtnis gleicht einer Arena, in der die Erinnerungen aufeinander losgelassen werden. Hier und da behauptet ein Jemand oder eine Körperschaft Deutungshoheit.“
Die andere Leipziger Schule – Fotografie in der DDR, Lehrer &Schüler der Hochschule für Grafik & Buchkunst Leipzig, Kunsthalle Erfurt, Herausgegeben von Susanne Knorr & Kai Uwe Schierz, 255 S., Kerber Verlag Bielefeld, 2009, 39,95 €