Läuft weg, Ziege – Rezension zum Seelenwanderfilm „Vier Leben“

Wir sehen Tiere und Typen, neben wenigen Leute auch viel Land und ein verlassen wirkendes, uraltes Dorf aus Naturstein mit gebrannten Ziegeln und Holz statt Stahl und Beton, das auf den nackten Fels eines Berges gesetzt wurde wie ein Hut auf einen Kopf, oben drauf halt. Das Dorf wirkt wie eine Festung, hebt sich in Farbe und Form wenig vom schroffen Drumherum ab und scheint von Ferne als Burg auf dem Berg dem Himmel so nah. Auf diese karge Kommune im klischeebeladenen Kalabrien unter Kreuz, Kirche und Kriminalität muß man als Kulisse für diesen krassen Kinofilm erst einmal kommen. Andere wollen aus der einstigen Kornkammer des Römischen Reiches einfach nur weg.

Wenn nicht die Ziegen wären, deren Glöckchen klingeln, mal ein Topf, der klappert, und ein Automobil, das rattert, der ganze Streifen würde als Stummfilm durchgehen. Irgendwann ertönen die Glocken einer Kirche, ein klappriger, roter Kleintransporter rumpelt durch die Szene, quält sich mit Säcken voller Holzkohle Gassen empor. Der Kohlhändler kommt und in die Jahre gekommenen Frauen holen sich ihre Rationen.

Schnitt. Ein Hund bellt während der Hirte beim Scheißen ins Grasland eine Ameise, die sein Gesicht durchstreift, erst spät bemerkt, dann wegwischt. Mit seinem Arsch geht er nicht so sorgsam um, mit seiner Gesundheit auch nicht.

Trommelschläge. Fanfaren erklingen. Eine Prozession zieht eine asphaltierte Straße entlang. Römer. Ein Verkleideter jagt einen Hund davon. Ein Sünder trägt Kutte und Kreuz. Pfaffen marschieren mit, vorne weg, dahinter das Dorfvolk. Kinder und Jugendliche sind nicht zu sehen. Doch die Regie scheint sich mehr für den einen, herrenlosen Hund zu interessieren, als für die Herde hinter dem Kirchenkreuz.

Wie auf dem Berg Golgatha stehen drei Kreuze auf dem Kamm. Plötzlich rollt der klapprige Kleinlaster durch den Zaun ins Gehege der Ziegen, während die Kamera dem hin und her laufenden Hund in einer nicht enden wollenden Einstellung folgt. Schwenken, nicht schneiden. Wie auch immer: Das Vieh ergreift die Gelegenheit und zieht los. Ins Dorf zieht es die Ziegen. Über verwinkelte Straßen und Gassen geht es in die Häuser. Die Tiere treibt es zum Hirten. Der liegt im Bett und die Ziegen schauen ihm beim Sterben zu. Das Letzte, was der Hirte sieht, der das traditionelle Kalabrien verkörpert, ist eine Ziege. Der eigens beim Fegen einer Frau gesammelte Staub einer Kirche, die dem Hirten heilig schien und als Beigabe in ein Glas Wasser gerührt wurde, um getrunken zu werden, hat offensichtlich nicht geholfen. So ist das mit dem heidnischen Glauben an therapeutische Kräfte von Kirchenstaub.

Ein zweites Mal flanieren Dörfler hinterm Kreuz. Doch es sind dieses Mal nur ein Dutzend von ihnen. Einer trägt ein Kreuz vorweg, der Pfaffe Lila und vier Mann den mit einem Strauß weißer Blumen geschmückten Holzsarg des Hirten. Schnitt.

In der nächsten Szene gucken wir die Geburt einer Ziege. Schön anzusehen wie das flutscht und das Baby versucht, auf die Beine zu kommen, während Mama ihr Lamm leckt. Sterben und Geborenwerden in der rückständigen Region am Rande Europas. Tod und Leben auf der ramponierten Resterampe Italiens.

Weiter geht`s im Film durch die nächste Episode. Während die erwachsenen Ziegen hinaus dürfen, aufs Land sollen, müssen die Lämmer noch zuhause bleiben. Sie klettern und meckern, toben im Stall umher und entdecken ihre kleine Welt. Zum Abend kommt die Herde Ziegen heim und die Zicklein begrüßen ihre Eltern. Was für ein Tierfilm.

Dann ist es soweit. Der Nachwuchs darf erstmals mit in die Weite, doch nicht ohne vorher noch eine Maulsperre zu bekommen, damit die noch Unerfahrenen nichts Falsches fressen. Nein, das wird nicht erklärt, das dürfen wir uns denken. Über Stock und Stein, auf einer Brücke aus Steinstehlen mit Betondecke, die ein Flußtal quert, durch Bäche und  Büsche hält die Herde mit dem neuen Hirten mit. Nur das eine Neugeborene, bei dessen Geburt wir dabei waren, als der alte Ziegenhirte zu Grabe getragen wurde, plumpst in einen Graben, kommt anfangs nicht heraus und kann so nicht Anschluß halten. Seine Rufe nach Hilfe hören weder Hund noch Hirte. Die Herde ist weg und die Ziege allein auf weiter Flur. Mit zugebundenem Maul. Was für ein Drama.

Unter einer majestätischen Tanne hält das Osterlamm Rast, ruht und schläft. Es folgt eine Schwarzblende so lang wie die Nacht. Am nächsten Morgen weht eine steife Brise und Schnee liegt auf dem Boden. Aha, selbst im Frühling kann es in den Bergen mitunter noch bitterkalt werden. Doch die Sonne setzt sich auch auf dem Mont Pollino durch. Vögel zwitschern. Junges Grün sprießt. Schnitt.

Eines Morgens hören wir eine Säge. Der Baum, unter dem wir das Zicklein zuletzt sahen, fällt. Das ganze Dorf scheint mal wieder gemeinsam auf den Beinen zu sein. Männer schleppen den langen Stamm der großen Tanne kilometerweit, tragen ihn auf den Marktplatz und richten ihn auf. Dann findet die „Festa della Pita“ statt. Das alles ist gute Gemeinwesenarbeit. Diese echte Erlebnispädagogik, dieses wirtliche Gemeinschaftsgefühl kommt ohne studierte Sozialarbeiter der Städte aus. Auf den Höhen Kalabriens ist die Welt noch in Ordnung. Das Gefüge der Generationen steht wie eine Eiche.

Die mit grünen Ästen und bunten Geschenken geschmückte Spitze des markanten Mastes ragt über erdfarbene, gebrannten Ziegeln der von der Sonne des Südens verblichenen Häuser hinaus wie ein Leuchtturm in der Brandung einer tosenden gischtgrauen See. Einst wurde eine lebendige Ziege hoch in den Stamm gebunden, um von unten beschossen zu werden, bis Blut auf die Menschenmenge spritzte. Dieses heidnische Fruchbarkeitsritual ist christilichen Machenschaften gewichen.

Später fällt das gute Stück und die Dörfler eilen zu den Geschenken. Am nächsten Morgen wird der Stamm zerlegt und der klapprige Kleintransporter bringt das Holz, in dem die Seele des Hirten hängt, auf der sich an den Hängen entlangschmiegenden Straße zu Köhlern. Die verstehen augenscheinlich ihr Handwerk und wir sehen ihnen bei der Arbeit gerne zu. Wir schauen, wie sie Schicht um Schicht das Holz stapeln, innen dicke Balken, außen dünne Stöcker. Dann wird der riesige Haufen gruppiertes Holz mit Stroh bedeckt. Schwarze Erde kommt darüber. Fertig ist der ein halbes Dutzend Meter hohe Hügel, in dessen Mitte durch ein Loch brennende Holzscheite fallen gelassen werden. Die schmutzige Handarbeit wird beendet. Der Deckel wird geschlossen, rundum werden viele faustdicke Löcher in den Meiler gebohrt, aus denen es wenig später raucht wie aus einem Erzgebirgsmännchen. Was für eine Dokumentation.

Dann ist die Kohle fertig und die Köhler schaufeln die spröde mineralische Materie im Rauch stehend fix zu Portionen, füllen die zerbrechlich, knirschende Kohle in Säcke. Daß diese Arbeit nicht ohne gesundheitliche Schäden ein Leben lang verrichtet werden kann, ahnen wir und auch, daß der Weg vom Köhler zur Hirten nicht weit ist. Der Weg der Kohle ins Dorf auch nicht. Das ist die Aufgabe fürs feuerrote Kohlemobil, den klapprigen Kleintransporter. Später dampft ein Schornstein. Rauch steigt auf. Endlich kommt die Seele des alten Ziegenhirten in den Himmel. Toll, toll, toll.

Die Geschichte endet endlich wie das Leben. Sie ist auf ihre archaische Art poetisch, rund. Zum Schluß, bei den Köhlern, schließt sich der Kreis mit dem Hirten, den Ziegen und dem Baum. So auf den ersten Blick langweilig wie der Film kann auch das Leben in Kalabrien sein, selbst wenn man vier und also viel davon hat.

Der Episoden-Film über Reinkarnation von Michelangelo Frammartino, der beim Blick in die Augen eines Tieres die Seele sehen kann, lief in der Sektion Kulinarisches Kino der diesjährigen Berlinale und zuvor auf Filmfesten in Cannes, München, Karlovy Vary, Sarajewo, Wroclaw, Motovun und Lama. „Vier Leben“ in Serre, der bergigen Heimat der Hirten und Köhler, läuft seit 30. Juni in deutschen Kinos und wer in die wenigen Lichtspielhäuser geht, die diesen Beitrag bringen, der blickt durch ein seltsames Filmfenster in die Vergangenheit kalabrischer Kleinstädte, auf eine Leinwand als Zeitfenster in die Gegenwart Kalabriens, die nicht vergehen will.

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Originaltitel: Le Quattro Volte
Deutscher Titel: Vier Leben
Jahr: 2010
Land: Deutschland, Italien, Schweiz
Drehbuch und Regie Michelangelo Frammartino
Darsteller: Giuseppe Fuda, Bruno Timpano, Nazareno Timpano, Ziegen, Köhler, ein Hund und ein Baum
Eine Koproduktion von Vivo film, Essential Filmproduktion, Invisibile Film und ventura film
Mit Unterstützung u.a. vom Medienboard Berlin Brandenburg und auch vom ZDF und ARTE
Produzenten: Marta Donzelli, Gregorio Paonessa, Susanne Marian, Philippe Bober, Gabriella Manfrè, Elda Guidinetti und Andres Pfaeffli
Länge: 88 Minuten
Kinostart: 30. Juni 2011
Website: www.vier-leben-derfilm.de

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