Berlin, Deutschland (Weltexpress). Unverkennbar war in der Pressekonferenz der Berliner Philharmoniker vergangene Woche eine Versachlichung der Beurteilung der Lage und der Zukunft des Orchesters festzustellen. Die Pandemie, ihre Überwindung und die Rückkehr zur Normalität waren die Hintergründe einer ernsthaften und nachdenklichen Erörterung der Lage und der Realisierung der auf guten Prognosen aufgebauten Pläne für die Spielzeit 2021/2022.
Der Chefdirigent Kirill Petrenko konnte das „einzig Positive“ der zwangsweise isolierten Arbeit des Orchesters darin finden, dass die Zusammenarbeit des Klangkörpers „unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ die persönlichen Beziehungen sehr gefördert hat. „Ich konnte mehr an die Musiker herantreten: Was ist für sie wichtig, was für sie unverzichtbar? In konzentrierter, ruhiger Form haben wir ausgezeichnete Leistungen gebracht.“ Gegenüber anderen Orchestern hatten sie einen Vorteil durch die Übertragungen der Konzerte mittels der Digital Concert Hall. „Im leeren Saal waren wir online präsent. Wir überlegen: Was sollen wir nun bei der Rückkehr zur Normalität anders machen als früher?“
Im Programm der neuen Saison ist Petrenkos Handschrift deutlich zu erkennen. Als ernstestes Problem betrachtet er das Anwachsen von Intoleranz, Rassismus und Antisemitismus. „Wir wollen natürlich dagegenhalten.“ „Lost Generation – zu Unrecht vergessen“ ist das Motto für die Aufführung unbekannter oder wiederentdeckter Werke deutscher und europäischer jüdischer oder antifaschistischer Komponisten, die verfolgt, vertrieben, ermordet, in die Emigration getrieben oder in die innere Emigration gezwungen wurden. Den Konzertbesuchern soll bewusst werden, dass durch deren Verfolgung ein Entwicklungsstrang in der europäischen Musik abgeschnitten wurde. Wie ein roter Faden zieht sich die Aufführung von Werken Erwin Schulhoffs, Viktor Ullmanns, Pavel Haas´, Gideon Kleins, Paul Hindemiths, Karl Erich Korngolds, Karl Amadeus Hartmanns, Mieczyslaw Weinbergs, Hanns Eislers, Ernst Tochs, Roberto Gerhards und anderer durch die Konzerte der Saison. Auch die 10. Sinfonie Dmitri Schostakowitschs, des Vorkämpfers gegen den Antisemitismus in der Sowjetunion, wird Petrenko unter dieses Motto stellen. Petrenkos Sprache ist deutlich. Die Naziherrschaft nennt er Naziherrschaft und nicht vornehm „Nationalsozialismus“, wie der verbreitete Tarnname für die Verbrecherbande heißt.
Zweiter Schwerpunkt ist das deutsch-österreichische Repertoire, das sich insbesondere Franz Schubert zuwendet mit der Großen Sinfonie, die Petrenko besonders gern in zwei Waldbühnenkonzerten dirigieren wird. Intensiv werden Werke von Igor Strawinski aufgeführt werden. Großes Gewicht haben die Opern Tschaikowskis, die in Berlin und Baden-Baden konzertant oder szenisch aufgeführt werden – „für meine Seele ein großes Labsal“, sagt Petrenko. Auch Johann Sebastian Bach wird in der Philharmonie wieder viel Spielfreude wecken. Mit Begeisterung wird sich Petrenko für die Familienkonzerte einsetzen – „für mich das wichtigste in der Bildungsarbeit.“ Wie sich Kirill Petrenko immer mehr in die Arbeit des Orchesters vertieft, wird auch das Festkonzert zum 50. Jahrestag der Karajan-Akademie beweisen. Dort steht die Uraufführung des Cellokonzerts von Donghoon Shin auf dem Programm. Zur Verstetigung dieser Veranstaltungen wird es drei neue Abonnementreihen geben: eine für die Karajan-Akademie und zwei für Familienkonzerte.
Das geplante Europakonzert am 1. Mai 2022 in Odessa versucht ein Korrespondent schon jetzt zu einem Bekenntnis im „Konflikt zwischen der Ukraine und Rußland“ zu stilisieren. Petrenko erwartet ein schönes Konzert. Er kenne Odessa als spannende und traditionsreiche Musikstadt. Er hoffe, auch nach Rußland fahren zu können, das auch zu Europa gehört.
Wenn Petrenko den jüdischen Komponisten viel Raum widmet, so bleibt ein Schwachpunkt, dass die Berliner Philharmoniker noch nie ein Programm den vier jüdischen Orchestermitgliedern widmeten, die ihre Vorgänger 1933/34 vertrieben haben. Auf meinen Vorschlag, sie im philharmonischen Salon zu würdigen, hob der Kurator Götz Teutsch die Hände: „Das wird viel zu teuer!“ Der Salon hält es lieber ästhetisch mit Richard Wagner, Mathilde Wesendonck, E.T.A. Hoffmann und Giacomo Casanova.
Ein schwelendes Thema bleiben Komponisten aus der DDR. Petrenko will mehr lebende Komponisten „in den Fokus nehmen“. Nun sind nach dreißig Jahren Zeitgenossen keine Zeitgenossen mehr. Man schaut nach allen Seiten nach Intressantem aus, doch Werke von „drüben“ machen auch heute nicht neugierig. Zwar sind die „Altmeister“ Hanns Eisler und Paul Dessau im Programm vertreten, aber Rudolf Wagner-Regeny, Ernst Hermann Meyer, Siegfried Matthus, Friedrich Goldmann, Ruth Zechlin, Günther Kochan, Günter Fischer, Andre`Asriel, Georg Katzer usw. kommen in westdeutschen Orchestern nicht vor. Das Schlagzeugkonzert von Ruth Zechlin ist bis heute noch nicht im Konzertsaal uraufgeführt. (Helfender Hinweis: Kinderlieder aus der DDR könnten unverfänglich sein).
2020/2021 werden 81 Konzerte in der Philharmonie gegenüber 58 im Pandemiejahr 2020 gespielt. Normalerweise liegt die Auslastung im großen und im Kammermusiksaal bei 96,1 Prozent. Das ist bei Pandemie-Beschränkungen nicht möglich. Doch auch die Intendantin Andrea Zietzschmann ist froh, dass das Orchester die Störungen durch die Pandemie „zivilisiert“ überstanden hat. Dank seiner Digital Concert Hall konnte es „gut sichtbar“ bleiben. Mit Hilfe der Staatsministerin Monika Grütters (CDU) und des Kultursenators Klaus Lederer (Die Linke) konnten die Verluste im Jahre 2020 in Höhe von acht Millionen Euro ausgeglichen werden – ohne die ärgerlichen Verzögerungen, die andere getroffen haben.
Dem Neubeginn im August sieht Andrea Zietzschmann hoffnungsvoll entgegen, zum Beispiel dem Waldbühnenkonzert mit zugelassenen 6.100 Besuchern. Eine „neue Normalität“ stehe bevor – mit großen Risiken. Worauf sich einstellen, auf einen halb besetzten Saal ohne Masken oder einen voll besetzten mit Masken? Für die Öffnung der Kulturstätten hat das Orchester ein Pilotprojekt entwickelt. Die radikale Veränderung der Arbeitsweise hat die gesamte Belegschaft mit Bravour bestanden, betont auch der Orchestervorstand Stefan Dohr. Aber Probleme bleiben.
Zur Kulturpolitik hat Andrea Zietzschmann ernste Bedenken. Die Schäden der Eingriffe in die Kultur sind noch nicht absehbar. Sie haben strukturelle Defizite offenbart. 90 Prozent der Künstler sind betroffen. Sie haben Sorgen um ihre Existenz und um ihre Zukunft, dennoch haben einige Bundesländer Kürzungen im Kulturetat angekündigt. „Wir brauchen eine tiefgreifende Debatte über die Rolle der Kultur. Die Kultur muss ins Grundgesetz“, sagt Zietzschmann. Diskurse zur Kultur werden die Berliner Philharmoniker in ihrem Hause anstoßen.
Neue Töne im Selbstverständnis der Berliner Philharmoniker. Stand bisher das Bestreben im Vordergrund, die Spitzenstellung, wenn nicht das Monopol, des Orchesters weiter auszubauen, so artikulieren heute die Spitzen des Orchesters Verantwortung im Widerstehen gegen Faschismus, Rassismus und Antisemitismus und Verantwortung für den Schutz und eine stabile Förderung der Kultur, für eine gesicherte Existenz der Künstler.