Die Angst vor einer möglichen Gefahr treibt die Orchestermitglieder um, die während einer Seereise die Asche ihres verstorbenen Dirigenten im Ägäischen Meer verstreuen wollen. Zunächst fürchten die MusikerInnen sich vor dem Tod, vor der Einsamkeit und einem sinnentleerten Leben. Als aber fünf schiffbrüchige Geflüchtete an Bord kommen, nehmen die abstrakten Ängste der Luxusreisenden Gestalt an und aktivieren ihre Widerstandskräfte.
Karin Beier hat am Hamburger Schauspielhaus Fellinis Film „Schiff der Träume“ fürs Theater bearbeitet und aktualisiert. In ihrer Inszenierung regieren die Klischees, die EuropäerInnen wie Geflüchteten in zunehmendem Maß aufgedrückt werden: Übersättigte WohlstandsbürgerInnen auf der einen und unzivilisierte Wilde auf der anderen Seite.
Im ersten Teil sind die Deutschen noch unter sich, eine skurrile KünstlerInnentruppe. Sie singen und musizieren und proben die Aufführung von „Human Rights Nr. 4“, die schräg klingende Sinfonie des verstorbenen Maestros. Der hat seinem „Klangkörper“ in einem nachgelassenen Brief Anweisungen erteilt, bei denen er mit Demütigungen und Beleidigungen einzelner Orchestermitglieder nicht gespart hat. Wie sich herausstellt, haben seine MusikerInnen den großen Wolfgang trotz zur Schau getragener Verehrung gehasst.
Karsten Schröder, Herr der Triangel, (Charly Hübner) übernimmt die vakant gewordene Leitung und handelt sich damit sofort Protest ein. Bei den vom Tyrannen befreiten Untertanen zeichnen sich Machtkämpfe ab. Trotzdem geht es relativ friedlich zu. Die Stimmung ist düster. Im Angesicht der Urne, die vorn auf einem Tisch platziert ist, wird über den Tod philosophiert. Üppige Mahlzeiten, sachkundig bemäkelt, und alkoholische Getränke dämpfen die Tatkraft und führen zu Tränenausbrüchen und sexuellen Experimenten.
Betreut werden die Trauerreisenden vom forschen Chefstuart Thorsten Schilling (Jan-Peter Kampwirth) und der Servicekraft Astrid Klein, die Lina Beckmann unwiderstehlich komisch gestaltet, obwohl es eigentlich gar nicht lustig ist, wenn sie ihren Vornamen als Arschtritt ausspricht oder beim gestotterten Verlesen des Menüs über das „Hummerkaka“ nicht hinaus kommt. Aus der unterdrückten, tollpatschigen Astrid wird am Schluss eine ganz andere Persönlichkeit. Ohne zu stottern beschimpft Lina Beckmann das Publikum und outet sich dann als Leiterin der Unternehmung, bei der es sich nicht um eine Seereise handelt.
So wird am Ende auch klar, weshalb das Bühnenbild von Johannes Schütz so gar nicht nach einem Schiffsdeck aussieht. Es ist eher ein Lagerraum mit einem Regal im Hintergrund, dessen leere Fächer die Kabinen der Reisenden darstellen. Durch eine Luke ist allerdings gelegentlich das Meer zu sehen, Einmal schwimmen Clownfische über die Bühne, wenn Cornelius von Ochs (Josef Ostendorf), Spezialschlagzeuger mit Schwimmflossen und Schnorchel, seiner geheimen Leidenschaft folgt und als Pop-Diva in ausladender roter Gewandung auftritt.
Auch die so zurückhaltend und altmodisch erscheinende Sopranistin Ethel Hebbelthrait (Rosemary Hardy), die ein wundervoll vornehmes Englisch spricht, hat offenbar eine dunkle Seite. In ihrer Kabine spielt sie merkwürdig anrüchige Spiele mit dem Chefstuart.
Vier Marthaler-SchauspielerInnen hat Karin Beier an Bord geholt: Neben Ostendorf und Hardy auch Sasha Rau und Betttina Stucky. Sie sorgen für das mysteriöse Marthaler-Flair und bringen auch die Naivität mit, die das allzu Bekannte in diesem Stück befremdlich erscheinen lässt.
Bettina Stucky spielt hier die Flötistin Ada Morante, zugleich resolute Mutter von Nelly Morante (Josefine Israel). Die bringt die Klangstäbe zum Schwingen, ist militante Veganerin und muss mehrfach daran gehindert werden, in blindem Aktionismus die Welt zu retten.
Zwischen Karsten Schröder und dem Klarinettisten Peter Bohlen (Michel Wittenborn) kommt es zu einem Handgemenge, bei dem, wie zu erwarten, die Urne vom Tisch fällt und die Asche des Maestros sich auf den Fußboden ergießt. Als die Sängerin und Cellistin Tati Weber (Julia Wieninger) später die Überreste des großen Wolfgangs dem Meer anvertraut, zieht sie aus der Urne auch ein Kleidungsstück heraus, das beim hastigen wieder Auffüllen dort hinein geraten war.
Bevor der traurige Höhepunkt der Reise stattfindet, kommen die Fremden an Bord. Mit ihrem Erscheinen wird das Licht heller und die Musik klingt anders. Die vier Afrikaner bringen Leben in die Trauergesellschaft. Sie sind gekommen, um das dekadente Europa aus seiner Lethargie zu reißen und es zu revitalisieren. „Ich möchte eure Probleme haben“ sagt einer von ihnen.
Der Chefstuart weist den Afrikanern das Unterdeck zu, aber die lassen sich vom Oberdeck nicht vertreiben. Sie halten einen Informationsvortrag über absonderliche Eigenarten der Deutschen, begeben sich mit Quizfragen ins Publikum, beschreiben aber auch detailliert den Vorgang des Ertrinkens von Kindern.
Die Neuankömmlinge sind laut und raumgreifend, aber sie sind auch attraktive junge Männer, die mit ihrer Vitalität und ihrer kraftvollen Tänzen dem Klischee entsprechen, das EuropäerInnen schon im 18. Jahrhundert fasziniert hat. Verkörpert werden sie von den Tänzern und Performern Gotta Depri, Ibrahima Sanogo, Michael Sengazi und Sayouba Sigué.
Tati Weber kann sich der erotischen Anziehungskraft der Fremden nicht entziehen, und schließlich kommt es dazu, dass EuropäerInnen und Afrikaner sich beim gemeinsamen Tanz annähern. Das Vergnügen ist allerdings kurz. Der Chefstuart erscheint und verfrachtet die Afrikaner auf ein isländisches Patrouillenboot, das im Auftrag von Frontex unterwegs ist.
In einem langen Monolog setzt Tati Weber sich mit ihrem Gutmenschentum auseinander, und kann am Ende erleichtert feststellen, dass nicht sie die Entscheidung über die Abschiebung fällen musste.
Karin Beiers Inszenierung zur Eröffnung des Theatertreffens bekam viel Lob für die hervorragenden Leistungen der SchauspielerInnen aber auch einige Kritik am zwar unterhaltsam dargebotenen jedoch nicht sehr gehaltvollen Stück. Diese Kritik haben Karin Beier und ihre Co-AutorInnen Stefanie Carp und Christian Tschirner vermutlich herausfordern wollen. Die Klischees, die sie auf die Bühne gebracht haben, sind aus dem realen Leben gegriffen. Sie im Theater zu enttarnen und lächerlich zu machen, ist ganz sicher notwendige Aufklärungsarbeit.