Ihr Debüt war der verstörende Monolog einer jungen, mittellosen Kreatur, die ihre Not nicht anders zu lösen vermochte, als ihre eigenen Kinder zu töten. Inzwischen ist Véronique Olmi am Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends angelangt. An der Schwelle des Alters. Als würde sie sich selbst einen Roman lang erklären wollen, was war und was ist und was hätte sein können, berichtet die Ich-Erzählerin Emilie den Verlauf weniger Tage ihres Lebens. Beginnend mit der verpatzten Feier ihres 25. Hochzeitstages.
„Ich bin heute jünger als mit zwanzig. Meine Wünsche haben mehr Leichtigkeit, meine Grundsätze auch. Ich wollte heiraten, Kinder haben, einen Beruf, Freunde, Ferien und Weihnachten. Ich habe all das bekommen. Ich habe so viel Energie, Angst und Aufmerksamkeit darauf verwandt, ich habe so viele Ratschläge befolgt, so viele Bücher und Zeitschriften gelesen, so viele Stunden am Telefon mit Freundinnen verbracht, die Kinder im gleichen Alter, zu ernste oder zu unstete, zu präsente oder zu eilige Männer hatten”¦ und ich habe so viel Zeit damit verloren, alles auf mich zu nehmen, dass ich dabei über Bord gegangen bin.“
Und nachdem ihr klar wird, dass sie sich selbst ein wenig verloren hat, stößt Emilie auch noch auf eine Annonce auf einem Stück Zeitungspapier, in die der Wein eingewickelt war, den sie gerade für die Feier mit ihrem Mann öffnen wollte”¦
"Emilie, Aix 1976. Komm so schnell wie möglich zu mir nach Genua. Dario."
Dario, der erste Freund, der erste Geliebte. Sofort ersteht alles auf vor Emilies Augen, in ihrem Herzen. Sie verlässt Haus, Mann, Stadt und fährt nach Italien. Das eigentlich berührende an dieser Liebes- und Reisebeschreibung sind die skurrilen Gestalten, denen Emilie über den Weg läuft und ihre Erinnerungen. Eine Kindheit in der Provinz(ce), die gläubige und vor allem unglückliche Mutter, die behinderte Schwester – all das ist sachlich und doch höchst emotional geschildert und gekonnt gestaltet. Dann erscheint er, Dario, gleichsam engelhaft wie diabolisch in der Einöde ihres jungfräulichen Kinderzimmers. Dario ist Star der Teenager einer ganzen Stadt, Liebling seiner Mutter und der Götter. Schöner ist Naiv-sein, das Spielen unbedarfter Jugend, selten beschrieben worden. Emilie war sechszehn und sofort verliebt.
„Ich war von sechzehn bis siebzehn jung. Diese Jugend ist mein ewiges Alter.“
Derweil ist Emilie Ende vierzig und fährt ins Ungewisse. Wird Dario auf sie warten? Wie sieht er aus? Er muss fünfzig Jahre alt sein, sie haben sich seit mehr als dreißig Jahren nicht gesehen”¦ Obwohl Emilie und der Leser diesem Wiedersehen entgegenfiebern, verwendet Olmi viel Zeit auf Nebenstränge und durchaus lesenswerte Umwege, sodass Genau erst nach mehr als zwei Dritteln des Romans erreicht wird. Und dann?
Veronique Olmi hat es vorgezogen, dass Ende zu einem banalem Show-Down mit Heldenverklärung verkommen zu lassen. Das ist schade und einigermaßen enttäuschend. Mein Rat: dieses wunderbare Buch exakt bis Seite 193 lesen, Emilie folgen, wie sie den Garten einer paradiesischen Villa hoch über Genua durchschreitet – und dann das Buch weit weg legen! Bitte spinnen Sie sich selbst aus, was sie dort oben an der Tür erwartet!
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Véronique Olmi, Die erste Liebe, Roman, Aus dem Französischen von Claudia Steinitz, 284 S., Verlag Antje Kunstmann Verlag München, 2011, 19,90 €