„Jeder, nur nicht Bibi“ oder Der Staat Israel versus Benjamin Netanjahu

Benjamin Netanjahu und Naftali Bennett
Benjamin Netanjahu und Naftali Bennett auf einem Plakat in Israel. © Foto: Johannes Zang, 2015

Tel Aviv, Israel (Weltexpress). Die Aasgeier kreisen am Himmel. Sie können einen verletzten Mann auf dem Boden liegen sehen und warten auf sein Ende.

Dies tun auch die menschlichen Karnivore – die Politiker.

Sie singen sein Lob, schwören, ihn mit all ihrer Kraft zu verteidigen, aber in ihren Köpfen überlegen sie schon, wer der Nachfolger sein könnte. Jeder von ihnen murmelt dies vor sich hin: Warum nicht ich?

Benjamin Netanjahu steht vor der größten Krise seiner langen Karriere. Die Polizei ist dabei, ihre Untersuchungen abzuschließen. Der Staatsanwalt steht unter großem Druck, die offiziellen Anklageschriften zusammen zu zählen. Die großen Demonstrationen in der Nähe der Wohnung des Staatsanwalts werden von Woche zu Woche größer.

Der Staatsanwalt, der Generalsinspektor der Polizei und der Minister für Innere Sicherheit wurden alle persönlich von Netanjahu (und seiner Frau) ernannt. Selbst dies half nichts mehr. Der Druck ist zu stark.

Die Untersuchungen mögen sich noch einige Monate hinziehen, aber das Ende scheint sicher: „Der Staat Israel versus Benjamin Netanjahu“ geht vor Gericht.

Wenn ein Mitglied der Regierung wegen eines Verbrechens angeklagt wird, tritt er gewöhnlich zurück, oder nimmt wenigstens Urlaub. Nicht so Netanjahu.

Falls er zurücktreten würde, wer würde dann Israel bewahren und es vor den schrecklichen Gefahren retten, die den Staat von allen Seiten bedrohen? Die Iraner versprechen seine Auslöschung, die bösen Araber rund um uns wollen uns töten, die Linken und andere Verräter bedrohen den Staat von innen. Wie können wir ohne Bibi überleben? Die Gefahr ist zu schrecklich, um darüber nachzudenken.

Netanjahu selbst scheint dies zu glauben. Er, seine Frau und sein ältester Sohn benehmen sich wie eine königliche Familie. Sie kaufen ein, ohne zu bezahlen, reisen als Gäste von anderen, erhalten wie selbstverständlich teure Geschenke.

Der populäre Humor begleitet all diese Übertretungen. Die Polizei hat sich diesem angeschlossen und dekoriert ihre Akten mit vielen Nullen.

Akte 1000 befasst sich mit den Geschenken. Die Netanjahus sind von einer Menge Milliardären umgeben, die mit einander mit Geschenken konkurrieren. Viele Witze wurden über teure Zigarren und rosa Champagner gemacht, die der Familie geschenkt wurden – bis ihr wahrer Wert herauskam, dass sie zehn Tausende Dollars kosten. Und die Geber etwas von den Beschenkten zurück erwarten.

Akte 2000: hier geht es um eine sonderbare Angelegenheit. „Yedioth Aharonot“ („Die letzten Nachrichten“) war Israels größte Tageszeitung bis „Israel Hayom“ („Israel heute“) erschien – eine kostenlos verteilte Zeitung. Sie wurde von Sheldon Adelson, einem Bewunderer von Netanjahu und dem Besitzer von sehr großen Kasinos in Las Vegas und Macao, gegründet. Sie ist der einzigen Aufgabe gewidmet, König Bibi zu rühmen.

Bei einem aufgenommenen privaten Gespräch bot Netanjahu Noni Moses, dem Besitzer von „Yedioth“ ein Abkommen an. Israel Heute würde seine Größe und seine Verteilung reduzieren, wenn „Yedioth“ anfangen würde, Bibi zu glorifizieren. Juristisch läuft dies auf Bestechung hinaus.

Und dann gibt es noch die Akte 3000 tief unter dem Meer. Der deutsche Schiffsbauer Thyssen-Krupp (Zwei Namen, die einen an Hitlers Waffenschmiede erinnern) baut unsere Unterseeboote. Drei, sechs, neun. Der Himmel – oder das Meer – ist die Grenze.

Wozu brauchen wir Unterseeboote? Nicht um die Flotte der Feinde zu versenken. Unsere Feinde, bzw. was von ihnen übriggeblieben ist, haben keine Flotte. Aber sie könnten nukleare Waffen erhalten. Israel ist ein sehr kleines Land und eine oder zwei Atombomben könnten es zerstören. Aber keiner wird davon träumen, dies zu tun, wenn sie wissen, dass im Meer Unterseeboote lauern, die mit nuklearen Raketen innerhalb Minuten reagieren würden.

Die deutsche Schiffswerft verkauft mit der Unterstützung der deutschen Regierung die Unterseeboote an die israelische Flotte. Kein Makler war nötig. Aber es gibt Makler, die Millionen in ihre Taschen stecken. Wie viele Taschen? Es gibt sie. Eine ganze Anzahl der Taschen gehören Leuten, die dem Ministerpräsidenten sehr nahe stehen.

Perverse Köpfe können sich vorstellen, dass Millionen den MP selbst erreicht haben, Gott bewahre.

In dieser Woche hat ein angesehener TV-Kanal ein Programm mit einer Untersuchung ausgestrahlt; das Bild war erschreckend. Die ganze militärische und zivile Umgebung scheint von Korruption angesteckt zu sein – wie ein afrikanischer Staat.

Eine der wenigen Lektionen, die ich in meinem Leben gelernt habe, ist, dass keiner die Spitze irgendeiner Berufung erreicht, wenn er sich nicht absolut und total ihr hingibt.

Um stinkreich zu werden, muss man das stinkende Geld lieben. Nicht die Dinge, die man mit Geld kauft, sondern das Geld selbst. Wie der Geizhals von Moliere, der den ganzen Tag dasitzt und sein Geld zählt. Falls man noch etwas anderes wünscht – Liebe oder Ruhm – wird man nie ein Multi-Multi-Milliardär werden.

Don Juan kümmerte sich nur um Frauen. Nicht um Liebe. Nur um Frauen.

David Ben-Gurion wünschte Macht. Nicht die Vergnügungen der Macht. Nicht Zigarren. Keinen Champagner. Keine Villen. Nur Macht. Alles andere wie sein Bibelklub und sein Lesen des Don Quijote auf Spanisch, waren nur Vorwände. Er wollte Macht und diese, so lange wie er konnte, halten.

Eine Person, die politische Macht wünscht, aber auch die Annehmlichkeiten des Lebens, mehrere Villen und eine Menge Geld wird nicht wirklich die Spitze erreichen. Netanjahu ist ein gutes Beispiel.

Er ist keine Ausnahme. Sein Vorgänger sitzt im Gefängnis und noch einige frühere Minister. Ein früherer Präsident des Staates wurde gerade aus dem Gefängnis entlassen (wegen Sexvergehen).

Netanjahu wuchs in einer Familie auf, die nicht reich war. Auch Ehud Olmert und Ehud Barak und Moshe Dayan erging das so und nicht anders. Alle liebten das Geld zu sehr.

Sarah Netanjahu, die Frau des Ministerpräsidenten, ist auch dabei, angeklagt zu werden. Sie wird beschuldigt, ihre teuren privaten Dinge mit Regierungsgeld bezahlt zu haben. Sie wird weithin nicht geschätzt. Jeder nennt sie Sarah’le (kleine Sarah), aber nicht aus Liebe. Sie wuchs unter beschränkten Verhältnissen auf und war eine gering bezahlte Stewardess, als sie Bibi in einem Duty-free-Laden traf.

Ich war glücklich: bis zu meinem 10. Lebensjahr war meine Familie in Deutschland reich. Als wir nach Palästina flohen, wurden wir arm wie eine Synagogenmaus, aber viel glücklicher.

Eine andere Lektion: Keiner, der an der Macht ist, sollte dort länger als acht Jahre bleiben.

Leute an der Macht ziehen Schmeichler an. Jeden Tag, Jahr um Jahr wird ihnen erzählt, dass sie wunderbar seien. So weise, so klug und so attraktiv. Langsam werden sie von sich selbst überzeugt. Schließlich können sich so viele gute Leute nicht irren.

Ihr kritischer Verstand stumpft ab. Sie gewöhnen sich daran, dass ihnen gehorcht wird, selbst Leute, die es besser wissen. Sie werden gegenüber Kritik immun, sogar wütend, wenn sie kritisiert werden.

Nach der 12 Jahre langen Amtszeit Franklin Delano Roosevelds, einem klugen und erfolgreichen Präsidenten, veränderte das amerikanische Volk seine Verfassung und begrenzte die Amtszeit des Präsidenten auf zwei , zusammen auf acht auf einander folgende Jahre. Sehr vernünftig.

Ich spreche aus Erfahrung. Ich wurde dreimal in die Knesset gewählt. Ich freute mich bei den ersten beiden Amtszeiten – acht aufeinander folgende Jahre – weil ich das Gefühl hatte, dass ich die richtigen Dinge in der richtigen Art und Weise tat. Während meiner dritten Amtszeit hatte ich das Gefühl, weniger kühn, weniger innovativ, weniger originell zu sein. Also trat ich zurück.

Netanjahu ist jetzt in seiner vierten Amtszeit. Höchste Zeit für ihn, abzutreten.

Die Bibel ermahnt uns: „Freue dich nicht über den Fall deines Feindes und dein Herz sei nicht froh über sein Unglück.“ (Sprüche 24,17). Ich freu mich nicht, aber ich werde froh sein, wenn er geht.

Ich hasse ihn nicht. Ich liebe ihn auch nicht. Ich denke, dass ich in meinem Leben mit ihm bei nicht mehr als zwei oder drei Gelegenheiten gesprochen habe. Einmal, als er mich seiner zweiten – nicht letzten – Frau vorstellte, einer jungen Amerikanerin und einmal, als er mein Bild in der Ausstellung sah. Er sagte mir, ich sähe wie Errol Flynn aus.

Meine Haltung ihm gegenüber gründet sich nicht auf Emotion. Sie ist rein politisch. Er ist ein talentierter Politiker, ein schlauer Demagoge. Aber ich bin davon überzeugt, dass er Israel langsam aber sicher in eine historische Katastrophe führt.

Die Leute glauben, dass er ohne Prinzipien ist, dass er alles tun würde – alles – um an der Macht zu bleiben. Das stimmt. Aber unter allem, sind einige eiserne Überzeugungen versteckt – die Weltanschauung seines verstorbenen Vaters, dem Professor für Geschichte, dessen spezielles Gebiet die spanische Inquisition war. Vater Benzion Netanjahu war eine verbitterte Person, davon überzeugt, dass seine Kollegen ihn verachteten und seine Karriere wegen seiner extrem rechten Ansichten blockierten. Er war ein Fanatiker, für den sogar Wladimir Jabotinsky zu moderat war.

Der Vater bewunderte seinen ältesten Sohn, Yoni, ein Armeeoffizier, der bei dem berühmten Entebbe-Angriff getötet wurde; Bibi respektierte er nicht sehr. Er sagte einmal, dass er als Ministerpräsident nicht geeignet sei, doch könnte er ein guter Außenminister sein – eine sehr scharfsichtige Beobachtung.

Falls Benjamin Netanjahu fällt, was möglich scheint, wer wird ihn ersetzen?

Wie jeder kluge (und unsichere) Führer, hat Bibi jeden wahrscheinlichen Rivalen fertig gemacht. Jetzt ist kein offensichtlicher Erbe vorhanden.

Aber viele Leute wiederholen jetzt einen Slogan: „Nur nicht Bibi!“

Anmerkungen:

Vorstehender Beitrag von Uri Avnery wurde vom Englischen ins Deutsche von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Die Erstveröffentlichung erfolgte unter uri-avnery.de nach eigenen Angaben am 12. August 2017. Alle Rechte bei Autor.

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