Iran: Neue Phase der Revolte

Da es den Menschen im Iran verboten ist, vorzutreten und ihre Forderungen freimütig vorzubringen, und der Staat oppositionelle Demonstrationen niemals erlaubt, haben die Menschen im Iran während der vergangenen sieben Monate jede Feierlichkeit zu einem Jahrestag und zu den Tagen, an denen sie traditionell auf den Straßen zusammenströmen dürfen, genutzt und versucht, ihren Kampf fortzuführen. Trotz der grausamen Polizeiaktion gegen die Demonstranten finden diese sich mutig ein und das in wachsender Zahl.
Einer dieser Tage war der 27. Dezember, Ashura, der heiligste Tag für die schiitischen Muslime. An diesem Tag kamen nicht nur mehr Menschen und nicht nur verschiedenartigere, sondern sie zeigten auch ihre Entschlossenheit, alle ihre Möglichkeiten zu nutzen, um ihre Forderungen und Ziele durchzusetzen. Wie immer wurden sie mit der grausamen Unterdrückung durch Polizei und paramilitärische Banden des Regimes konfrontiert, was zu vielen Todesopfern (die Polzei sprach von acht Toten) und über 1.000 Verhaftungen führte. Dieses Mal leisteten die Menschen dagegen Widerstand und verteidigten sich nicht nur, sondern drängten die Polizei zurück und verhinderten in einigen Gegenden, dass die Polizei ihre Ketten schließen konnte. Zur gleichen Zeit, wo sie die Polizeiaktionen neutralisierten und die Oberhand gewannen, verzichten sie darauf, isolierten Polizeibeamten etwas anzutun und halfen ihnen. Das war das klare Zeichen ihrer Fähigkeit, sich aktiv gegen Gewalt und Unterdrückung zu stellen, ein Zeichen legitimer Selbstverteidigung, und gleichzeitig einen nicht-gewalttätigen Kampf zu führen. Erstmalig ergaben einige Polizisten sich.
Der Schock des 27. Dezembers war derart tief, dass der Staat sich veranlasst sah, all seine Kräfte und Unterstützer für eine Demonstration am 30. Dezember in Teheran und Ghom zu mobilisieren, hauptsächlich um deren Moral wieder zu heben. Obgleich sie alle beim Staat und dessen Firmen Beschäftigten zwangen teilzunehmen und die Unterstützer aus den verschiedensten Regionen des Landes mobilisierten, brachten sie in der Megacity von Teheran mit neun Millionen Einwohnern nur mehrere Zehntausend zusammen. Verglichen mit ihrer Mobilisierungskraft im letzten Jahr und der Größe der Oppositionsdemonstrationen war das eindeutig ein Fehlschlag.

Der gegenwärtige revolutionäre Prozess im Iran ist stark, weil er übergreifend, pluralistisch, dezentralisiert, spontan, fragmentiert und vernetzt ist. Die Mainstream- Medien sprechen über die Bewegung als eine homogene “grüne” unter der Führung von “Moussavi und Karoubi”, den beiden Gegenkandidaten der Präsidentschaftswahlen vom Juni, und als hauptsächlich aus der Mittelklasse zusammengesetzt. Die Realität aber ist eine andere.
Die Parolen der Menschen auf den Demonstrationen lauten heute “Nieder mit der Velayat-e Faqih (Regime des obersten islamischen Rechtsgelehrten)”. Das ist für beide nicht akzeptabel, und sie haben solche Parolen offen abgelehnt. Der Mythos von der Mittelklasse, unabhängig von der Krise des Konzeptes an sich, nährt sich aus der Tatsache, dass eine große Zahl der Protestierenden im Iran gebildete Leute sind. Aber es ist auch eine Tatsache, dass die meisten dieser Menschen mit akademischen Graden arbeitslos sind oder als einfache Handarbeiter arbeiten. Die meisten der jetzige über drei Millionen College-StudentInnen im Iran gehören wahrscheinlich zu den zukünftigen Arbeitslosen. Die meisten Menschen, die dort protestieren, sind diejenigen, die unter der islamischen Version kapitalistischer Ausbeutung und deren korruptem Staat leiden. Warum sollten die armen Leute den Demagogen Ahmadinejad unterstützen, wenn sie sehen, wie er im Oktober 2009 versuchte, unter dem Namen „Gezielte Verwaltung der Subventionen“ ein Wirtschaftsgesetz durchzubringen, um die staatlichen Subventionen für Energie (Benzin, Gas, Elektrizität), Wasser, Brot und drei weitere zentrale Versorgungsgüter zu kürzen und ihre Preise in kurzer Zeit dem Marktniveau anzupassen. Dieser Plan, der der Schocktherapie der “Strukturanpassungspläne” von IWF und Weltbank ähnelt, zielt darauf ab, den freien Markt voll durchzusetzen und den Plan von 2004 zur Privatisierung der meisten Staatsbetriebe zu komplettieren. Das bedeutet die Durchsetzung des neoliberalen Wirtschaftsplans bei gleichzeitigen Lippendiensten gegenüber den Armen. Ist das nicht der Grund, aus dem sogar diejenigen, die für ihn gestimmt hatten, ihn jetzt nicht mehr aktiv unterstützen?
Die organisatorische Form des Kampfes ist das Netzwerk, hochgradig dezentralisiert und fragmentiert mit umfassender Nutzung der jüngsten Kommunikationstechnologie um sich zu vernetzen. Diese Form wirkt nicht nur als Sicherheitsmaßnahme gegen eine grausame Unterdrückung, sondern noch wichtiger als das ist, dass das die Chance für jeden Teilnehmer erhöht, zu intervenieren und aktiv an der Selbstorganisierung teilzunehmen und die Fähigkeit dazu zu verbessern. Diese Form ist auch eine wirkungsvolle Maßnahme, um die Beherrschung der Bewegung durch einen “Führer” zu verhindern. Wenn sich diese Netzwerke von Protestierenden ausdehnen und interagieren, könnten sich der Embryo einer “Selbstbestimmung” entwickeln und eines Bruchs mit dem System und den Zusammenbruch des Taboos von Staat und dessen Machinerie einläuten.

So würden sie nicht die grauenhafte Erfahrung der Revolution von 1979 wiederholen: nach dem Sturz des Regimes sich freiwillig von der Macht zu trennen und sie einer charismatischen Persönlichkeit als Repräsentant einer neuen Herrschaft anzubieten (erinnern wir uns, dass die letzten drei Tage der Revolution von 1979 im Iran, in denen das Volk mit der Armee des alten Regimes zusammenstieß und sie brach, außerhalb der Kontrolle durch die Führung Khomeini verliefen, und dass der letzte Akt beim Sturz des Regimes ein spontaner und nicht-zentralisierter Akt der Menschen war, ja, dass darüberhinaus Khomeini gar nicht geplant hatte, zu kämpfen und den Apparat des Regimes zu zerschlagen, und stattdessen an einem Deal mit dem US-General Huyser für einen Regimewandel und die Rettung der kaiserlichen Armee arbeitete.).

Was ist mit der gegnerischen Seite? Die Herrschenden leiden stärker denn je unter internen Konflikten und Machtkämpfen. Ja, auch sie sind fragmentiert. Aber diese Fragmentation ist im Gegensatz zu der der revolutionären Bewegung der Grund für ihre Lähmung, weil die Staatsmacht eine Macht über andere ist und akkumuliert, konsolidiert und zentralisiert werden sollte, um in der Lage zu sein zu kommandieren, zu kontrollieren und zu beherrschen.
Der elektorale Staatsstreich vom Juni 2009 konnte nicht vollenden, was er anstrebte. Jetzt müssen sie zusätzlich zu den Reformern solche starken Persönlichkeiten wie Rafsanjani und seine Unterstützer im klerikalen Establishment und anderen Teilen des Staatsapparates und auch Ahmadinejads Rivalen innerhalb dessen eigener Fraktion ausschalten. Die Reformer sind draußen und haben unter den Protestierenden Zuflucht gesucht, sind aber gleichzeitig immer noch an Rafsanjani gebunden, der noch immer ein wichtiger Akteur im Staat ist und der seinerseits Verbindungen mit den internen Rivalen Ahmadinejads hat, wie dem Parlamentsvorsitzenden Ali Larijani und den traditionellen konservativen Kräften des islamischen Staates. Somit lähmt sie der Konflikt zwischen den beiden Fraktionen der sogenannten Prinzipalisten (“osulgarayan” – Ahmadinejad und seine Rivalen, die beide mit dem Obersten Führer Khamenei verbunden sind) nicht weniger als der Konflikt mit Rafsanjani.
Die Schlussfolgerung: die Zeichen einer Veränderung im Gleichgewicht zwischen dem revolutionären Volk und dem kapitalistischen islamischen Staat werden sichtbarer. Man könnte sagen, der islamische Staat beginnt zu schmelzen wie der Schnee unter der Sonne.

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Anmerkungen:
Der Autor ist Mitglied der kommunistische `Organisation Revolutionärer Arbeiter Irans – Rahe Kargar’ und lebt in Deutschland im Exil
Der Artikel von Ü Piran Azad wurde aus dem Englischen von Anton Holberg übersetzt. Alle Rechte beim Autor.

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