„Man kann es nicht mehr hören. Man kann es nicht mehr sehen. Was hat das mit uns zu tun? Sich nicht bei diesen Fragen ertappen.“ (S. 131) Die unseligsten zwölf Jahre Deutscher Geschichte haben traumatisierte Seelen hinterlassen. Sie sind der Grund für das schwierige Verhältnis der Deutschen zu sich selbst. Will man wieder an den Krieg erinnert werden? Ja. Nicht aber weil wir das Tätervolk sind, das Abbitte leisten muss, sondern weil Dinge diskutiert gehören, auch wenn sie unbequem sind, auch wenn unsere Bundeskanzlerin das „nicht hilfreich“ findet, wie uns die Causa Sarrazin verraten hat.
Joachim Geil erzählt in seinem vielversprechenden Erstlingswerk eine Woche aus dem Leben des Dieter Thomas, einem Leutnant der Wehrmacht. Dieter, ein eigentlich netter junger Mann, steht stellvertretend für die Generation der Gründungsväter unserer Republik und die traumatisierte deutsche Volksseele. Im heißen Sommer 1944 erhält der Soldat Heimaturlaub. Zuhause in der Pfalz übt man sich in der Kunst des Verdrängens. Der Endsieg, so will man glauben, steht kurz bevor. Im Freibad trifft Dieter auf Heidi, mit der er eine Romanze beginnt, die schon im Anfang stirbt, denn Dieter kann nicht vergessen. Er trägt die Grauen des Krieges in sich.
Freibad und zweiter Weltkrieg, das erinnert an den autobiographischen Roman „Die Freibadclique“ des 1929 geborenen Oliver Storz. Flüssig und mit vielen Dialogen im damaligen Jugend-Jargon versetzt, erzählt Storz von mehr oder minder unbeschwerten Sommertagen im Freibad und wie er als junger Bursche noch im April 1945 eingezogen wird, ihm dann aber nach zwei kampflosen Tagen die Amerikaner seinem Krieg ein Ende bereiten. Die Stimmung bei Storz ist leicht, bei Geil drückend und schwer.
Joachim Geil konstruiert eine Geschichte, wie könnte das anders sein, um der Frage nachzugehen, wie ein Mensch den Krieg aushalten kann? Als Gerüst dient ein allwissender Erzähler, der als Jugendlicher einen Konvolut an Briefen in die Hand bekommt, erst davon nichts wissen will und dann als Vierzigjähriger die Aufzeichnungen durchliest, um sich von einem ganz normalen deutschen Schicksal ein Bild zu machen. Wenn es denn normal sein kann, mit 17 in den Krieg eingezogen zu werden und mit 22 „den Heldentod für Deutschlands Zukunft“ (S. 289) zu sterben. Das erzählerische Gerüst dient als Folie, um dem Leser die Ungeheuerlichkeit, die Unbegreifbarkeit des Unbegreiflichen – den Krieg – vorzustellen. Damit erreicht Geil trotz aller Konstruiertheit Glaubwürdigkeit und zeigt die Relevanz des Themas.
„Da fiel Tante Elles trotziger politischer Satz: ’Die Judde warn doch selbst schuld dran.`“ (S. 19) Dieter ist auf Urlaub in einer Heimat, die gar keine mehr ist und zu der er auch gar nicht mehr gehört. Wie kann das die Heimat sein, wo ihm sein Onkel erklärt, er würde den eigenen Sohn verraten, wenn dieser fahnenflüchtig werde. Er werde ihn verraten, weil er nicht krepieren will, nicht zurück will an die Ostfront, wo der Tod auf ihn wartet?
Mit seiner kühnen Erzähltechnik kommt Geil dem Innenleben seines Protagonisten erstaunlich nahe. Er verwischt die Sprachebenen, vermischt Zeit und Ort. Er bricht Sätze ab, wenn etwas nicht gesagt wurde und zeigt, wie furchtbar es ist, wenn geschwiegen wird, wenn man reden sollte, was passiert, wenn da einer doch redet und sein Rat nicht befolgt wird, nicht befolgt werden kann. Als Sprachjongleur verlebendigt Geil Zustände der Aggression, der Verwirrung, der Nüchternheit, der Klarheit, der Sprachlosigkeit, des Unausgesprochenen und des Unaussprechlichen. Er durchmischt erzählende Momente mit Einblicken ins Seelenleben seines Protagonisten. Schonungslos und weit über die Grenze des guten Geschmacks spricht Geil die Dinge aus. Die Massenvergewaltigung, den missglückten Beischlafversuch und den Brechreiz den Dieter hat, wenn er an der Türe seines im Sterben liegenden Großvaters vorbeiläuft. Auch Dieters Mordphantasien werden bis zum Ende ausgekostet.
Der Krieg hat Dieters Seele verbrannt. Unversehrt bleibt keiner, egal auf welcher Seite er steht und welche Rolle er innehat. Der Krieg ist ein schmutziges Geschäft, egal wann und egal wo er stattfindet. Und natürlich hatte Tucholsky Recht, als er den Satz schrieb, den man heute in Deutschland nur in Anführungsstrichen aufschreiben darf: auch Dieter Thomas wurde zum Mörder, als er in Russland sein Glück erschossen hat.
Geil spricht die Grauen des Krieges offen an, auch da, wo er sich ausschweigt. Der Krieg, das ist die Angst, der Hunger, das Schweigen, das unerträgliche Warten. Er macht aus Jugendlichen Mörder und Vergewaltiger, aus Onkeln Verräter und aus Frauen Fanatikerinnen oder Witwen. Dieters Heimaturlaub bei der Pfälzer Familie ist ein einziges langes Warten, eine quälende Agonie. Großmutter und Tante warten auf den Tod des Großvaters. So spannend, so packend der Roman ist, er ließe sich in einem Halbsatz zusammenfassen: er hat sie geliebt, erschossen und wird am Ende selbst erschossen. Das Buch ist ein einziges Warten auf das Ende.
Dieses hat Geil als eine Hommage an Remarques großen Kriegsroman gestaltet: hier wie dort stirbt der (Anti-)Held, und wir wissen, dass es nur wenig gedauert hätte, dann wäre der Krieg aus gewesen. Für Dieter aber ist sowieso alles aus: irgendwo in Russland hat er sein Herz verloren an ein junges Mädchen, die fast ein Kind noch war, als er mit ihr seine erste Liebesnacht verbrachte. Er kann es nicht überwinden, sie aus irregeleiteter Liebe in Verzweiflung erschossen zu haben.
„Mir? / Heißt Welt auf Russisch. / Na und? / Und Frieden. Seltsam, was? Welt und Frieden, einfach dasselbe, sagte der Kamerad, nahm seinen weißen Helm ab und zog seine Mütze ab, bis ein dichter blonder Lockenschopf im Fahrtwind wehte. Mit den wehenden Haaren sah er auf einmal so unsoldatisch aus. So weichlich. Und seine Soldatenbrille, die beiden Gläser an Gummizügen um die Ohren geschnallt, wirkte so primitiv, so unpassend für einen Mann, der da solche Dinge wusste.“ (S. 252)
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Joachim Geil, Heimaturlaub, Steidl Verlag, Göttingen 2010, 290 Seiten, 19,90 €