Im Osten nichts Neues – Dem Frieden im Nahen Osten keine Chance

Die Theorie: für drei Armeen gibt es die Möglichkeit, sich östlich des Jordans zu formieren: die irakische, die syrische und die jordanische; dort den Fluss zu überqueren und die Existenz Israels zu gefährden. Wir müssen sie stoppen, bevor sie das Land betreten. Deshalb muss das Jordantal als ständige Basis der israelischen Armee dienen, unsere Soldaten müssen dort bleiben.

Dies war von Beginn an eine zweifelhafte Theorie. Um an solch einer Offensive teilzunehmen, müsste sich die irakische Armee sammeln, die Wüste durchqueren und sich in Jordanien aufstellen – eine lange und komplizierte logistische Operation, die der israelischen Armee reichlich Zeit geben würde, die Iraker zu schlagen, bevor sie an das Jordanufer kämen. Was die Syrer betrifft, würde es für sie viel leichter sein, Israel auf den Golanhöhen anzugreifen als ihre Armee nach Süden zu lenken, um vom Osten her anzugreifen. Und Jordanien ist immer ein geheimer – aber loyaler – Partner Israels gewesen (abgesehen von der kurzen Episode im Sechs-Tage-Krieg.)

In den vergangenen Jahren ist diese Theorie eindeutig lächerlich geworden. Die Amerikaner haben den Irak überfallen und Saddam Husseins glorreiche Armee besiegt und aufgelöst, die sich als Papiertiger entpuppte. Das Königreich Jordanien hat einen offiziellen Friedensvertrag mit Israel unterzeichnet. Syrien benützt jede Gelegenheit, um sein Verlangen nach Frieden zu demonstrieren, wenn Israel nur die Golanhöhen zurückgeben würde. Kurz gesagt, Israel hat von seinen östlichen Nachbarn nichts zu befürchten.

Nun, die Situationen können sich ändern. Regime ändern sich, Allianzen ändern sich. Aber es ist unmöglich, sich eine Situation vorzustellen, in der drei Schrecken einjagende Armeen den Jordan nach Kanaan überqueren würden, wie einst die Kinder Israels in der biblischen Geschichte.

Außerdem gehört die Idee einer Bodenoffensive wie der Nazi-Blitzkrieg im 2. Weltkrieg der Geschichte an. In einem zukünftigen Krieg werden Raketen mit großer Reichweite eine dominante Rolle spielen. Man könnte sich deshalb israelische Soldaten im Jordantal auf Liegestühlen liegend vorstellen, wie sie die Raketen in beiden Richtungen über ihre Köpfe fliegen sehen.

Wie erwachte nun diese blöde Idee zu neuem Leben?

Es könnte sinnvoll sein, 43 Jahre zurückzugehen, um zu verstehen, wie dieses Schreckgespenst geboren wurde.

Nur sechs Wochen nach dem Sechs-Tage-Krieg wurde der „Allon-Plan“ herausgebracht. Yigal Allon – damals Arbeitsminister – legte ihn der Regierung vor. Er wurde nicht offiziell adoptiert, aber er übte einen großen Einfluss auf die israelische Führung aus.

Keine autorisierte Karte wurde von diesem Plan je veröffentlicht, aber die Hauptpunkte wurden bekannt. Allon schlug vor, das Jordantal und die Westküste des Toten Meeres Israel anzuschließen. Was von der Westbank übrig blieb, würden von israelischem Territorium umgebene Enklaven werden, außer einem schmalen Korridor nahe Jericho, der die Westbank mit Jordanien verbinden würde. Allon schlug auch vor, gewisse Gebiete der Westbank Israel anzuschließen, den Norden des Sinai (die „Rafah-Öffnung“ ) und den Süden des Gazastreifens (den „Kativblock“).

Es war ihm egal, ob die Westbank Jordanien zurückgegeben würde oder eine separate palästinensische Entität würde. Einmal griff ich ihn vom Knesset-Rednerpult an und klagte ihn an, er würde die Errichtung eines palästinensischen Staates blockieren, die ich befürwortete. Als ich auf meinen Platz zurückging, sandte er mir eine Notiz: „ Ich bin für einen palästinensischen Staat in der Westbank. Wieso bin ich also weniger eine Friedens- Taube als Du?“

Der Plan wurde als militärischer Imperativ vorgebracht, aber seine Motive waren ganz andere.

In jenen Tagen traf ich mich ziemlich regelmäßig mit Allon. So hatte ich die Möglichkeit, seinen Gedanken zu folgen. Er war einer der hervorragendsten Kommandeure des 1948er Krieges und wurde als Militärexperte angesehen, aber vor allem war er ein führendes Mitglied der Kibbuz-Bewegung, die damals einen großen Einfluss im Lande ausübte.

Unmittelbar nach der Eroberung der Westbank sandte die Kibbutzbewegung ihre Leute in die besetzten Gebiete und schaute nach Land, das für intensive, moderne Landwirtschaft geeignet sein würde. Natürlich war sie vom Jordantal angezogen. Von ihrem Standpunkt aus war es ein idealer Platz für neue Kibbutzim. Es gab dort viel Wasser, das Gebiet war eben und für moderne Landwirtschaftsmaschinen außerordentlich geeignet. Und besonders wichtig: es war nur dünn besiedelt. Alle diese Vorteile fehlten in andern Westbankregionen: eine zu dichte Bevölkerung, die Topographie gebirgig und das Wasser rar.

Meiner Meinung nach war der Allon-Plan eine Frucht landwirtschaftlicher Gier, und die militärische Theorie war nichts anderes als ein zweckdienlicher Sicherheitsvorwand. Und tatsächlich war die unmittelbare Folge die Gründung einer großen Anzahl von Kibbutzim und Moschavim (Kooperativdörfer) in dem Tal.

Jahre vergingen, bevor die Grenzen des Allon-Planes aus einander brachen und Siedlungen überall auf der Westbank errichtet wurden.

Der Allon-Plan ließ das Schreckgespenst der „Ostfront“ hochkommen, und seitdem terrorisiert es jene, die Frieden suchen. Wie ein Gespenst kommt und geht es, materialisiert sich und verschwindet wieder, einmal in der einen, ein andermal in anderer Form.

Ariel Sharon verlangte die Annexion des „erweiterten Tales“. Das Tal selbst ist ein Teil des großen Syrisch-Afrikanischen Grabens, ist 120 km lang ( vom See Genezareth bis zum Toten Meer) aber nur 15 km breit. Sharon verlangte deshalb fast zwanghaft, ihm den „Rücken des Gebirges“ hinzuzufügen und meinte damit die östlichen Hänge des zentralen Westbankgebirges. So würde das Jordantal erweitert werden.

Als Sharon das Projekt der Trennungsmauer übernahm, war es dafür gedacht, nicht nur die Westbank vom eigentlichen Israel zu trennen, sondern auch vom Jordantal. Das würde zu dem passen, was „Allon-Plan-Plus“ genannt wurde. Die Mauer würde dann die ganze Westbank umgeben, ohne einen Jerichokorridor. Dieser Plan ist nicht erfüllt worden, zum einen wegen der internationalen Opposition und aus Mangel an Finanzen.

Seit dem Oslo-Abkommen haben fast alle auf einander folgenden israelischen Regierungen darauf bestanden, das Jordantal müsse bei jedem zukünftigen Friedensabkommen in israelischen Händen bleiben. Diese Forderung erschien in vielen Gestalten: manchmal waren es die Worte „Sicherheitsgrenze“, manchmal „Warnstationen“, manchmal „militärische Einrichtungen“ und manchmal „langfristige Pacht“ je nach den kreativen Talenten der auf einander folgenden Ministerpräsidenten. Der gemeinsame Nenner: das Tal sollte unter israelischer Kontrolle bleiben.

Nun kommt Netanyahu und erweckt verbal die „Ostfront“ zu neuem Leben.

Welche „Ostfront“? Was für eine Bedrohung kommt von den östlichen Nachbarn? Wo ist Saddam Hussein? Wo ist Hafez al-Assad? Wird Mahmoud Ahmadinejad die Panzer- Kolonnen der Revolutionsgarden zu den Jordanübergängen schicken?

Nun gut, es geht folgendermaßen vor sich: die Amerikaner werden eines Tages den Irak verlassen. Dann wird ein neuer Saddam Hussein kommen, dieses Mal ein Schiite, der sich mit den Schiiten des Iran und mit den verräterischen Türken verbündet. Und wie weit kann man sich auf den jordanischen König verlassen, der Netanyahu verabscheut? Schreckliche Dinge mögen geschehen, wenn wir keine Wacht am Jordan haben.

Das ist eindeutig grotesk. Was ist also das wirkliche Ziel?

Die ganze Welt ist mit der amerikanischen Forderung beschäftigt, mit „direkten Gesprächen“ zwischen Israel und der palästinensischen Behörde zu beginnen. Man mag versucht sein, zu denken, der Weltfrieden hänge davon ab, dass die „indirekten Gespräche“ („proximity talks“) zu „direkten Gesprächen“ werden. Noch nie sind so viele Worte frömmlerischer Heuchelei über solch eine triviale Sache vertan worden.

Die „proximity talks“ sind jetzt seit mehreren Monaten geführt worden. Es stimmt nicht, dass ihre Ergebnisse fast bei Null sind. Sie sind Null, absolut Null. Was wird also geschehen, wenn die beiden Parteien in einem Raum zusammensitzen? Man kann mit absoluter Sicherheit vorhersagen: noch mal Null. Ohne amerikanische Entschlossenheit, eine Lösung zu erzwingen, wird es keine Lösung geben.

Warum besteht Obama darauf? Es gibt eine Erklärung: im ganzen Nahen Osten hat seine Politik versagt. Er braucht dringend einen eindrucksvollen Erfolg. Er versprach, den Irak zu verlassen – die Situation aber macht es unmöglich. Der Krieg in Afghanistan wird schlimmer. Der eine General geht, ein anderer kommt, und der Sieg ist weiter entfernt denn je. Man kann sich schon vorstellen, wie der letzte Amerikaner vom Dach der amerikanischen Botschaft in Kabul in den letzten Hubschrauber klettert.

Also bleibt nur noch der israelisch-palästinensische Konflikt. Auch hier sieht sich Obama einem Misserfolg gegenüber. Er hoffte, viel zu erreichen, ohne irgendetwas zu investieren und wurde leicht von der Israel-Lobby besiegt. Um die Schande zu verbergen, benötigt er etwas, das der ignoranten Öffentlichkeit als großer amerikanischer Sieg hingestellt werden kann. Die Wiederaufnahme der „direkten Gespräche“ sollen solch ein Sieg sein.

Netanyahu seinerseits ist ganz zufrieden mit der Situation, wie sie ist. Israel ruft nach direkten Gesprächen, die Palästinenser weigern sich. Israel streckt seine Hand zum Frieden aus, die Palästinenser wenden sich ab. Mahmoud Abbas verlangt, dass Israel das Einfrieren des Siedlungsbaus verlängert und im voraus erklärt, dass die Verhandlungen sich auf die Grenzen von 1967 gründen müssten .

Aber die Amerikaner üben enormen Druck auf Abbas aus und Netanyahu fürchtet, dass er nachgeben wird. Deshalb erklärt er, er könne den Siedlungsbaustop nicht verlängern, weil sonst – um Gottes willen – seine Koalition zerbrechen würde. Und als ob dies nicht genügen würde, kommt jetzt die „Ostfront“ ins Gespräch. Die israelische Regierung hat den Palästinensern zu verstehen gegeben, dass es das Jordantal nicht aufgeben wird.

Um diesen Punkt zu betonen, hat Netanyahu damit begonnen, die verbliebene palästinensische Bevölkerung des Tales – ein paar Tausend – zu entfernen. Ganze Dörfer werden vernichtet. Das begann in dieser Woche mit Farasiya, wo alle Häuser und die Wasserinstallationen zerstört wurden. Dies ist pure und simple ethnische Säuberung, wie die ähnlichen Operationen, die jetzt gegen die Beduinen im Negev durchgeführt werden.

Was Netanyahu jetzt zu verstehen gibt: Abbas sollte zweimal denken, bevor er in „direkte Gespräche“ einwilligt.

Das Jordantal geht bis zum niedrigsten Punkt der Erdoberfläche, zum Toten Meer, 400 m unter dem Meeresspiegel.

Das Wiederbeleben der „Ostfront“ mag den niedrigsten Punkt von Netanyahus Politik anzeigen – mit der Absicht, jeder verbleibenden Friedenschance ein für alle Mal den Todesstoß zu versetzen.

Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Die Erstveröffentlichung erfolgte unter www.uri-avnery.de am 31.07.2010. Alle Rechte beim Autor.

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