Berlin, Deutschland (Weltexpress). Es ist wie ein kleines Bergfest, die Mühsam-Tagebücher gehen in die zehnte Runde und die Zahl wird zweistellig. Der Anarchist sitzt nach wie vor im bayerischen Kerker und büßt für seine aktive Beteiligung an der Münchner Räterepublik. Die Rache der Reaktion ist fies, hässlich und hat als Ziel die psychische und physische Vernichtung des Gefangenen. Mühsam wütet in seinem Tagebuch weiterhin, träumt von der kommunistischen Zukunft und brandmarkt die feige Haltung der KPD. Die Gefangenen sind in mehrere Gruppen gespalten: hier die KPD-Epigonen, dort die bürgerlichen Einzelkämpfer, hier das Anarchistentrüppchen mit Mühsam. Man bekämpft einander und macht sich dadurch das Leben im Knast noch schwerer.
Seit drei Jahren sitzt Mühsam ein, ein Fünftel der aufgebrummten Sprache ist rum. Obgleich er immer wieder parteipolitisch mosert, entwickelt sich sein Tagebuch mehr und mehr zu einem Aufschrei zur Menschlichkeit. Doch wer, wie Ernst Toller, nicht mehr im Konzert der Revolutionäre mitkämpft, bekommt Mühsams tiefe Verachtung zu spüren. Toller sei ein linksliberaler, bürgerlicher Wicht und verdiene Schimpf und Schande. Diese Aussagen muss man im historischen Kontext sehen, ansonsten erscheinen sie zu albern. Mühsam glaubte nach wie vor an eine bolschewistische Revolution und sah sich als Boten der frohen Zukunft der Arbeiterklasse. Seine Analysen der Gesellschaft lesen sich mitunter befremdlich, ob man unter einem Innenminister Mühsam viel zu lachen gehabt hätte, sei dahingestellt. Doch sein schnörkelloser Erzählstil und der immer wieder aufkeimende störrisch/ironische Revoluzzergeist geben dem Buch im Gesamterlebnis eine feine Note, so dass man über seine mitunter kruden Betrachtungen gnädig hinwegsehen mag. Prädikat lesenswert!
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Erich Mühsam, Tagebücher, Band 10, 1922, herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens, Leinen mit Leseband, 408 Seiten, Verbrecher Verlag, Berlin 2016, ISBN: 3-940-42686-4, Preis: 30,00 EUR (D)