Ich hörte Punk in Vilnius und sah einen Engel in Leningrad – Illegale Reisen durch das Sowjetland, ein phantastisches wie wahres Sachbuch zu einem abseitigen Thema

© Lukas Verlag

Dieses Buch ist ein Sommerbuch. Immer im Sommer machten sich reiselustige Menschen aus der DDR auf den Weg in die Ferne, in die unerlaubte Ferne wohlgemerkt. Denn Reisen war in der DDR ein heikles Thema. Da der Westen tabu war, ging es in Richtung Osten, aber auch hier gab es vielerlei Einschränkungen. Polen war in den achtziger Jahren kaum bereisbar und nicht einmal die Sowjetunion durfte man ohne offizielle Erlaubnis und den Geleitschutz einer Reisegruppe besuchen. Wie überall lockte jedoch gerade das Verbotene. Unangepasste junge Leute unternahmen mit Hilfe eines Transitvisums, das nur für drei Tage galt, wochenlange riskante Expeditionen in ein Riesenreich, das elf Zeitzonen umfasste und gigantische Landschaften versprach.

Im vorliegenden, gründlich recherchierten und mit authentischem Bildmaterial aufbereiteten Handbuch kann nun nachgelesen werden, wie sich solche Reisen anfühlten und abspielten. Absurditäten des sowjetischen Alltags und der Bürokratie und eine schier unglaubliche Gastfreundschaft begegneten so gut wie allen illegal Reisenden. Tausende Rucksacktouristen unternahmen ab Mitte der sechziger Jahre bis 1989 Erkundungen auf eigene Faust kreuz und quer durch die riesige Sowjetunion – immer auf der Flucht vor dem KGB und der Miliz. Manch einer war dabei tatsächlich auf der Flucht, wie die Geschichte Jürgen van Raemdoncks zeigt, der mit einem Freund gleich zweimal aufbrach, um von Sibirien aus nach Alaska übers Eismeer zu fahren. Dass die beiden zweimal an der gleichen Stelle scheiterten, rettete ihnen wahrscheinlich das Leben.

Die von den Herausgebern verdichteten Zeitzeugen ­interviews erzählen individuelle Geschichten, manchmal reflektiert und genau beobachtet, manchmal spröde, manchmal lamentierend oder etwas zu prahlerisch, eben vielfältig wie die UdF-Reisenden selbst. Da trifft Ekkehard Maass singend auf Künstler, tauscht sich der spätere Landesbeauftrage der Stasi-Unterlagen (Sachsens) mit litauischen Oppositionellen aus, ein anderer schmuggelt Bibeln und eine andere erklimmt den Pik Lenin. Bis nach China und in die Mongolei sind die Ostdeutschen gelangt, nach Swanetien und ans Schwarze Meer, in die asiatischen Republiken und in verbotene Städte, mit selbstgenähten Schlafsäcken und Schweißer-Brillen als Schutz gegen die Sonne auf verschneiten Gipfeln. Eine Truppe segelte über den Baikalsee, eine andere nahm an einem Triathlon in Odessa teil”¦

Angeregt durch den bereits 2006 produzierten gleichnamigen Film von Cornelia Klauß fasste Frank Böttcher die Gelegenheit beim Schopfe, seine eigenen UdF-Reise Erfahrungen mit mehr als zwanzig weiteren Erlebnisberichten und einigen Essays als straff lektoriertes und das Thema erschöpfendes Sachbuch in seinem Lukas-Verlag herauszubringen. Dass der Sohn des Verlags-Chefs und Mitherausgebers auf einer dieser Reisen in schwindelnden Höhen gezeugt wurde, ist nur ein weiteres Glitzersteinchen in diesem wahrhaft brillanten Band zur Zeitgeschichte, Dank an Verlag und Herausgeber für die Fleißarbeit und wunderbare Kombination von erzählerischer Freiheit, autarker Bebilderung und behutsam ergänzter Dokumentation!

Dass noch nicht alles auserzählt wurde zum Thema der aufmüpfigen wie widerständischen Abenteurer made in GDR mag ein Satz aus der Schlusssequenz des großartig andeutenden Textes von Stephan Gast nahelegen, aus dem bereits eingangs zitiert wurde; „”¦ Die Strecke führte an Tschernobyl vorbei, ich sah Malerei in Ionowo, hörte Punk in Vilnius, sah Evangelisten in Tallin, Krishnas und einen Engel in Leningrad, es war noch allerlei los.“ (Stephan Gast „Die Enkel vom Arbat“, S. 320ff)

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Cornelia Klauß, Frank Böttcher (Hg.), Unerkannt durch Freundesland, Illegale Reisen durch das Sowjetreich, 444 Seiten, Lukas Verlag, Berlin, Januar 2011, 24,90 €

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