Ich habe nicht die Hälfte dessen erzählt, was ich gesehen habe – Ein wildes und reiches Lesebuch zum Unterwegssein

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Einen besseren Tod gäbe es für eine Autorin, die Geschichten über die Linie 4 schreibt, eigentlich nicht – meint die Autorin Annett Gröschner selbst und verfasst schon mal eine Presseerklärung für ihr eigenes Ableben. Wer oft verträumt mit dem Fahrrad auf einem der ungesicherten Übergänge der Greifswalder Straße in Berlin steht und die heranbrausende M4 erst im letzten Moment bemerkt, muss sich dieses Ende vorstellen können. Nicht nur ihren selbstironischen Tonfall würden wir schmerzlich vermissen, wenn Annett Gröschner zerschmettert unter der Tram enden würde. Nicht mehr sammeln, verdichten und ergänzen würde. Gesprächsfetzen, Dichterzeilen, mit leichter Hand gefüllte Lücken zwischen Fassaden, Ritzen und Rasen.

Von Alexandria nach Astachan, Buenos Aires, Dresen, über Naumburg, New York und Reykjavik bis Zürich führen uns die Geschichten, die uns Annett Gröschner auf der Linie 4 miterleben lässt. Ausgangspunkt der 34 Beschreibungen ist ihre Heimatstadt Magdeburg. Wer Annett Gröschners literarische Produktion der letzten Jahre wahrgenommen hat, wird in diesem Band detaillierte Ergänzungen finden, erstaunliche biografische Details. Alles beginnt mit der Insel im Fluss, auf welcher das Mädchen in den sechziger Jahren aufwuchs. Die Wagen der Straßenbahnlinie 4 wurden damals noch im thüringischen Gotha hergestellt, bevor sie über die Stromelbe in Magdeburg zuckelten, ab 1969 durch die breiten Prager Tatra-Bahnen ersetzt wurden und heute durch Deutsch Klausenburg in Rumänien rollen. Warum, das verrät der Einleitungstext „Ohne Schaffner. Zahlboxbetrieb.“, der wie alle anderen Kapitel mit einem s/w Strecken-Foto und etlichen literarischen Intarsien versehen wurde. Die Autorin hüpft munter 150 Jahre zurück, 30 nach vorn, schlüpft aus Gedichtbänden in Romane, von Bielefeld nach Budapest.

Mit der Linie 4 um die Welt ist ein sehr persönliches Buch, eine Art Wachtraumtagebuch. In Budapest nahm einst alles seinen Anfang, als die Autorin einfach in eine Straßenbahn einstieg und bis zum Ende mitfuhr. Alles andere fuhr auch mit, ihre Offenheit, ihre Neugierde, ihr immenses Wissen. Und so verknüpft sich jeder Meter einer existenten oder bereits aufgelösten Streckenführung einer Linie 4 irgendwo auf der Welt mit den Erlebnissen anderer, vor ihr dort Gewesener. Uwe Tellkamp beschrieb in den achtziger Jahren in seinem Roman Eisvogel das Funkenstieben der Dresdener Straßenbahn, Jörg Fauser erlebte Istanbul „vorwiegend unter Drogen“ als Collage, deren Schnittlinien im Unendlichen verlaufen. An der Berliner Haltestelle der ehemaligen Ringlinie sieht sie die Dichterin Brigitte Struzyk stehen. Annett Gröschner lässt die Zeilen durch sich hindurchfließen oder stößt sich ab. Erwin Strittmatters Satz zu Island: „Keine Korruption, stolze Menschen und hundert Tausend Pferde“, macht sie skeptisch, Gröschner hat kein einziges Pferd gesehen, „das mit der fehlenden Korruption ist inzwischen widerlegt“ und die Menschen sind freundlich, haben Respekt vor der Natur, aber stolz? „Was mich überwältigt, ist die atemberaubende eiskalte Schönheit der Landschaft, wie das Blau des Gesteins in den Lagunen am Flughafen.“ Lautet ihr Island-Fazit. Zwischen präzisen Abbildungen des Augenblicks tauchen die Kindheitserinnerungen auf, autobiografische Schnipsel wie der Vortrag über Geysire, den Annett Gröschner in der sechsten Klasse halten musste, im November 1976. Einen Tag nach dem Köln-Konzert von Wolf Biermann.

Und weiter geht es, an schimpfenden oder lachenden, müden oder trunkenen, stillen oder lauten Menschen vorbei, die überall auf der Welt eine Linie 4 nutzen. Für Ausländer ist diese manchmal nicht leicht zu finden, wie die Autorin vor einigen Monaten in Peking erfuhr. Die Chinesen misstrauen der Zahl 4, sie ist ihre 13. Auch sonst ist einiges anders in China: „Das Spucken ist nichts Ungewöhnliches, eher bekommt jemand, der in ein Taschentuch schnäuzt, angewiderte Blicke zugeworfen. Es ist die kleine zarte Schaffnerin, die nach dreimal Nase-Hochziehen das Fenster öffnet und auf die Straße speit.“

Marco Polo soll auf dem Sterbebett gesagt haben, was Annett Gröschner beiläufig zitiert und hier die Überschrift bildet, man glaubt es beiden sofort.

Annett Gröschner, Mit der Linie 4 um die Welt, mit Fotografien von Annett Gröschner und Arwed Messmer, 400 S., Deutsche-Verlags Anstalt, München, Oktober 2012, 22,99 €

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