Als die Entscheidung vor rund vierhundert Gästen im Kaisersaal des Frankfurter Römer durch Gottfried Honnefelder verkündet wurde, dem Vorsteher des Deutschen Börsenvereins, der auch Vorsitzender der Akademie Deutscher Buchpreis ist, die wiederum die jährlich wechselnde Jury bestellt, die den Preisträger ermittelt, brandete ein begeisterter Beifall auf, der der Preisträgerin galt, aber auch einer Jury, die sich strikt am vorliegenden Buch orientierte – denn dieses erhält auch eigentlich den Preis – und damit sowohl keinen Kotau vor dem Buchmarkt, als wirtschaftlich wichtigste Größe, machte, aber auch keinen vor den bedeutenden Schriftstellern, die mit Romanen wie Martin Mosebach mit „Was davor geschah“ für viele der geborene Buchpreisträger des Jahres war, was sich auch in Literaturkritiken niederschlug.
Auf diesen Zielkonflikt war schon Honnefelder in seiner Begrüßung eingegangen: „Trotz aller Risiken muss es den innovativen, riskanten Preis geben: Ganz gleich, ob am Ende die Entscheidung der Jury auf Zustimmung oder Kritik stößt, der Gewinner ist in jedem Fall die Literatur. Sie gewinnt Aufmerksamkeit und mit der Aufmerksamkeit die nötigen Leser. Und unter den Lesern wächst die Freude und das Gespür für literarische Qualität, Standards vertiefen sich und Innovationen werden entdeckt". Genau das war im Sinne der Jury, die unter der Hand bestimmten Schriftstellern mit großem Können mehr Mut und Risiken beim Schreiben anempfahl.
Den hat Melinda Nadj Abonji mit ihrem Roman „Tauben fliegen auf“ bewiesen, den die Jury mit folgender Begründung als Preisträgerin auswählte: „Melinda Nadj Abonji erzählt, aus der Perspektive der Tochter Ildiko, die Geschichte einer ungarischen Familie aus der serbischen Vojvodina, die sich eine Existenz in der Schweizer Gastronomie gründet. Sie erzählt es mit einer eigenen und äußerst lebendigen Stimme, zunächst noch mit dem Blick des Kindes auf die Welt, dem alles neu ist und sich doch von selbst versteht, dann der jungen Frau, die allmählich die Brüche in und zwischen diesen sehr verschiedenen Welten wahrnimmt, immer aber mit einer großen Empathie und Humanität. Was als scheinbar unbeschwerte Balkan-Komödie beginnt, wenn die Familie mit einem klapprigen braunen Chevrolet die sommerliche Reise in die alte Heimat antritt – darauf fallen bald die Schatten der Geschichte und der sich anbahnenden jugoslawischen Kriege. So gibt das Buch ‚Tauben fliegen auf‘ das vertiefte Bild eines gegenwärtigen Europa im Aufbruch, das mit seiner Vergangenheit noch lang nicht abgeschlossen hat". Die Jury bestand mit der Jurysprecherin Julia Encke (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) aus Jobst-Ulrich Brand (Focus), Thomas Geiger (Literarisches Colloquium Berlin), Ulrich Greiner (Die ZEIT), Burkhard Müller (Süddeutsche Zeitung), Ulrike Sander (Osiandersche Buchhandlung, Tübingen) und Cornelia Zetzsche (Bayerische Rundfunk).
Der Weltexpress hatte über ihr Buch am 30. September eine ausführliche Rezension gebracht „(Für uns wäre dieser Roman den Deutschen Buchpreis wert“), und in zwei weiteren Artikeln den Auftritt der Autorin in der gemeinsamen Lesung aller sechs Finalisten gewürdigt, wie auch ihre gerade erfolgte Nominierung für den Schweizer Buchpreis 2010. Dieser Roman ist ein wunderbares Buch, das das Gefühl der Heimat und die Erinnerung daran in einer anrührenden Weise und poetischen Sprache so vermittelt, daß auch derjenige, der nicht aus der Vojvodina, der ungarischen Diaspora im Norden Serbiens stammt, seine eigenen Kindheitserinnerungen wiederfindet oder sich, so Erinnerungsfetzen vorhanden, diese zu rekonstruieren versucht.
In ihrer Dankesrede zeigte die Preisträgerin weniger ihre Überraschung, als eine erstaunlich souveräne Preisentgegennahme. Sie erläuterte, daß sie vor sechs Jahren ihre Schreibmotivation erfahren habe, als sie sich in der französischen Schweiz aufhielt, und in diesem so anders gearteten Teil der Schweiz, sinnlicher als dem deutschen, auf einmal ihre Kindheitserinnerungen plötzlich da waren. Zudem sei damals eine Abstimmung über Erleichterungen der Einbürgerungen gelaufen, die abgelehnt wurden, wozu man von ihr als eingebürgerter Schweizerin einen Kommentar erwartete, was sie in „Argumentationsnotstand“ versetzte und Eruptionen freisetzte, aus denen dieser Roman entstand.
Melinda Nadj Abonji hatte sich durchgesetzt gegen: Jan Faktor (Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag, Kiepenheuer & Witsch), Thomas Lehr (September. Fata Morgana, Carl Hanser Verlag), Doron Rabinovici (Andernorts, Suhrkamp Verlag), Peter Wawerzinek (Rabenliebe, Galiani Berlin), Judith Zander (Dinge, die wir heute sagten, Deutscher Taschenbuch Verlag). Sie erhält ein Preisgeld von 25.000 Euro; die fünf Finalisten erhalten jeweils 2.500 Euro.
In ihrer Begrüßungsansprache hatte die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth den Wechsel der Jahreszeiten neu definiert, und kam sogar zum Begriff der „Verkündigung“, als sie die Bekanntgabe der jeweiligen Listen zum Deutschen Buchpreis zur neuen zeitlichen Ordnung für Frankfurt erklärte. In den Gesprächen in den Wandelhallen des Römers bei Speis und Trank nach der Preisvergabe, wo das erste Schaulaufen von Autoren und Verlagsleitern stattfindet sowie das Buchmessenmiteinander beginnt, gab es ein durchgehendes Thema: Die meisten fanden die Jury mutig und die Entscheidung nachvollziehbar, aber ein anderer Aspekt machte manche geradezu glücklich. „Endlich mal keiner von Hanser oder Suhrkamp!!“
Mit der Preisträgerin freuten sich die meisten eben auch für den kleinen Verlag Jung & Jung aus Salzburg und monierten, daß in den großen Feuilletons der Republik überwiegend Bücher der Verlage Suhrkamp und Hanser besprochen werden, ein wenig Kiwi, auch Fischer, Rowohlt bei Amerikanern wie Jonathan Franzen, und ab und zu eine exotische Blüte. „Durch diese Preisvergabe ist auch die Verlagslandschaft in der öffentlichen Wahrnehmung wieder weiter geworden“, war Tenor.
Auszüge aus den nominierten Titeln stehen über www.libreka.de kostenlos zum Download bereit. Weitere Informationen, Filmausschnitte von der Pressekonferenz und Termine des Preisträgers rund um die Frankfurter Buchmesse können abgerufen werden unter www.deutscher-buchpreis.de.