Berlin, Deutschland (Weltexpress). „Bitte, bitte verschonen Sie uns mit Ihren jämmerlichen Krokodilstränen. Wir werden nicht von Kritik an Israel bedroht, sondern von einem Mangel an Empathie politischer Entscheidungsträger in Deutschland selbst. Kritiklosigkeit an Israel verhöhnt alle, die am meisten unter Faschismus und Rassismus gelitten haben.“
Meinem letzten Artikel unter dem Titel „Humanitäre US-Initiative: Mehr kleinere Bomben auf Gaza“, hatte ich ein Zitat von Oliver Ginsberg gebracht, das im Zusammenhang mit der politischen und medialen Rechtsfertigungsorgie im kollektiven Westen zur moralischen Unterstützung der zionistischen Mordbrenner in Gaza mit seltener Prägnanz kurz und bündig den Kern des Problems trifft. Zur Erinnerung nochmals das Zitat: „Es sind MENSCHEN, die ein Existenzrecht und Recht auf ein Leben in Würde und Freiheit haben. Staaten, welche dieses Recht systematisch und mit derartiger Grausamkeit mit Füßen treten, haben jedes Existenzrecht verwirkt, auch wenn sie sich ein fassadendemokratisches Mäntelchen umhängen.“
Nach Veröffentlichung des Artikels bekam ich etliche Anfragen, wer dieser Ginsberg ist und in welchem Zusammenhang er dies von sich gegeben hatte. Die Antwort lautet, dass das Zitat aus einem Brief stammt, den Ginsberg an die Verfasser und Organisatoren eines offenen Briefes von 1.000 deutschen Literaturschaffenden geschrieben hatte. Stromlinienförmig konform mit der Bundesregierung in Berlin haben die Tausend deutschen „Intellektuellen“ in ihren offenen Brief versucht, sich als die besseren Juden zu profilieren.
Der Brief der Tausend war nämlich gegen einen anderen offenen Brief von über 100 in Deutschland beheimateten jüdischen Künstlern, Schriftstellern und Wissenschaftlern gerichtet. Er war am 22. Oktober in der taz veröffentlicht worden. Darin klagen die Unterzeichner die deutsche Polizei an, Proteste gegen die israelischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit brutal zu unterdrücken. Zugleich werfen sie der deutschen Regierung vor, Demonstrationen sowie Appelle für Frieden und Meinungsfreiheit zu kriminalisieren. Unter anderen hoben der Brief einen besonders absurden Fall hervor, bei dem „eine jüdische Israelin festgenommen wurde, weil sie ein Schild in der Hand hielt, auf dem sie den Krieg, den ihr Land führt, anprangerte“.
Praktisch alle von jüdischen Gruppen organisierte Versammlungen seien von der Polizei zum Teil mit angeblicher „unmittelbaren Gefahr“ von „volksverhetzenden, antisemitischen Ausrufen“ begründet worden. Diese Behauptungen dienten laut Meinung der 100 deutschen Juden nur dazu, „legitime und gewaltfreie politische Äußerungen, die auch Kritik an Israel beinhalten dürfen, zu unterdrücken“.
Der Text des offenen Briefs der 100 jüdischen Intellektuellen kann mitsamt den Namen der Unterzeichner über diesen Link aufgerufen werden.
Gegen diesen Brief der 100 in Deutschland lebenden Juden haben dann 1.000 deutsche „links, liberal und konservativ denkende Autorinnen und Autoren“ – so bezeichnen sie sich selbst – mit einem eigenen offenen Brief aufgetrumpft. Darin machten sich die Autorinnen und Autoren das Narrativ der Rechtsextremisten in der Netanjahu-Regierung zu eigen und verbeugten sich unterwürfig vor dem Gesslerhut der deutschen Staatsräson, nämlich den Apartheidstaat Israel auf Teufel komm raus zu beschützen. In vorauseilendem Gehorsam, mit einem tiefen Kotau vor den Herrschenden und aus offenbar tief sitzender Angst, wegen Kritik an dem verbrecherischen Zionistenregime in Israel als Antisemit denunziert zu werden, haben diese 1.000 deutsche Literaten aus ihrer verengten Sicht heraus versucht, sich als „jüdischer“ als die in Deutschland lebenden Juden darzustellen.
In ihrem offenen Brief klagen die 1.000 Literaten ihren eigenen Literaturbetrieb, der angesichts der schlimmen Gewalttaten der terroristischen Hamas angeblich „in einem an Bräsigkeit nicht zu überbietenden Schweigen verharrt“, wohinter sie ein „Stillhalten“ vermuten, „um bloß keinen Fehler zu machen? Um sich nicht angreifbar zu machen? Selbstbewusstes oder in irgendeiner Form dem grassierenden Antisemitismus die Stirn bietendes Schweigen jedenfalls kann es nicht sein“, monieren die Tausend, um dann „allen in Deutschland, Österreich und der Schweiz lebenden Jüdinnen und Juden“, „dem Staat Israel“ (!!!) sowie „allen Menschen, die sich für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte, auch im Gazastreifen einsetzen“ ihre Solidarität zu versichern.
Die Heuchelei in diesem Brief der Tausend, die zur Schau gestellte Tugendhaftigkeit der Verfasser und Gutmenschinnen und Gutmenschen war bereits schwer zu verdauen – aber mit dem Texteinschub, dass ihre Solidarität auch „allen Menschen gilt, die im Gazastreifen (wo derzeit Massenmord und Massenvertreibung stattfindet) für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte einsetzen“, siegte bei mir der Brechreiz.
Mit ihrem Brief haben die 1.000 „Gutmenschen“ unfreiwillig demonstriert, dass sie weder von internationalen Rechtsnormen noch von den Zusammenhängen in und um den Gazastreifen einen blassen Schimmer haben. Tatsächlich haben sie sich mit ihren Unterschriften auf die Seite der rassistisch-zionistischen Gewaltextremisten in Israel und deren rechtsradikale Netanjahu-Regierung gestellt. Zugleich sind sie den friedliebenden Juden in den Rücken gefallen, die in Israel und rund um die Welt auf den Straßen gegen den Massenmord im Gazastreifen demonstrieren.
Der offene Brief der Tausend samt Namen der Unterzeichner kann über diesen Link aufgerufen werden.
Es war vor diesem Hintergrund, dass der eingangs zitierten Ginsberg eine kurze, aber treffende Replik an die E-Mail-Adresse der Gruppe geschickt hat, die den offenen Brief der Tausend organisiert hatte.
Seine Kritik an den 1.000 literarischen Hilfswilligen und Unterstützern der unglaublichen zionistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit – nicht nur im Gazastreifen – ist bestechend scharf. Fakten und komplexe Sachverhalte sind stark kondensiert, aber deren emotionaler Inhalt wird dennoch mit voller Wucht vermittelt, was mich als Leser sofort gepackt hat. Da ich das weitervermitteln wollte, habe ich von Ginsberg die schriftliche Genehmigung bekommen, seinen Brief unverändert und ungekürzt zu veröffentlichen, denn auch ihm ist an einer weit möglichsten Verbreitung gelegen. Hier folgt Ginsbergs Mail:
Betreff: Schluss mit der Anmaßung für Juden zu sprechen
Datum: Thu, 2 Nov 2023 13:41:25 +0100
Von: Oliver Ginsberg
An: offenerbrief.literaturbetrieb@gmail.com
An die Unterzeichnenden des Offenen Briefes,
als Nachkomme einer jüdischen Familie, die unter dem Faschismus bis auf eine Person ausgelöscht wurde, melde ich hiermit meinen schärfsten Protest an gegenüber ihrer Anmaßung für Jüdinnen und Juden in diesem Land sprechen zu wollen. Noch leben Menschen in diesem Land, die selbst oder deren Eltern und Großeltern Opfer der Shoah wurden. Diese haben eine eigene Stimme und benötigen ihre bevormundende, geschichtsvergessene und eurozentristische Fürsprache nicht.
Im Übrigen hat auch der Staat Israel nicht das Recht für uns zu sprechen. Dieser Staat ist selbst das Ergebnis einer Kolonialisierungsideologie, die in ihrem völkisch-chauvinistischen Gepräge den rassistischen Kolonialisierungs- und Missionierungsbemühungen früherer Jahrhunderte in nichts nachsteht. Wenn ihnen angesichts der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche die israelischen Streitkräfte schon zum wiederholten Mal an der palästinensischen Zivilbevölkerung verübt haben, angesichts des seit Jahrzehnten andauernden, illegalen und gewaltsamen Siedlerkolonialismus, angesichts der tausendfachen Schikanen, Verhaftungen und Folterungen in israelischen Gefängnissen nichts anderes einfällt als eine apologetische Bestätigung israelischer Selbstverteidigungsdoktrin, die nichts anderes ist als eine Legitimierung von Massenmord, dann wäre es besser ganz zu schweigen. Hören Sie auf in moralischer Überheblichkeit zu schwelgen. Sie haben nichts, rein gar nichts aus der Geschichte der Shoah gelernt.
Wer Israel jetzt noch unterstützt, setzt sich nicht für Jüdinnen und Juden und deren Nachkommen ein, sondern für ein militaristisch-koloniales Staatsprojekt, welches kein Existenzrecht für sich beanspruchen kann. Es sind MENSCHEN, die ein Existenzrecht und Recht auf ein Leben in Würde und Freiheit haben. Staaten, welche dieses Recht systematisch und mit derartiger Grausamkeit mit Füßen treten, haben jedes Existenzrecht verwirkt, auch wenn sie sich ein fassadendemokratisches Mäntelchen umhängen.
Was am 7. Oktober tatsächlich geschehen ist, wird vielleicht die Zukunft zeigen. Was wir bereits jetzt wissen, ist, dass die weit verbreiteten Narrative von geköpften Babys und Vergewaltigungen durch nichts belegt sind und dass viele Israelis im „friendly fire“ ihrer eigenen Armee ums Leben kamen. Ein großer Teil der Getöteten auf israelischer Seite waren laut Ha’aretz Soldaten und Polizeikräfte. Es ist richtig, religiösen und nationalen Fanatismus und den Tod von Zivilisten zu verurteilen. Das gilt jedoch für beide Seiten und schon wegen des Umfangs noch viel mehr für die Zionistische. Sie jedoch ziehen es vor, einer bequemen Staatsraison zu folgen, der zufolge die palästinensische Bevölkerung kein Recht auf bewaffneten Widerstand gegen die israelische Besatzungs- und Vertreibungspolitik hat, Israel aber jedes noch so grauenhafte Kriegsverbrechen begehen darf und ungeschoren davonkommt.
Hören Sie endlich einmal den Jüdinnen und Juden zu, die sich konsequent auf die Seite der palästinensischen Seite gestellt haben. Folgen Sie Abigail Martin, Miko Peled, Norman Finkelstein, Gabor Maté, Noam Chomsky u. a., welche zu der Minderheit derjenigen gehören, welche diesen Konflikt in seinen wahren historischen und moralischen Kontext stellen. Und bitte, bitte verschonen Sie uns mit Ihren jämmerlichen Krokodilstränen. Wir werden nicht von Kritik an Israel bedroht, sondern von einem Mangel an Empathie politischer Entscheidungsträger in Deutschland selbst, welche – indem sie ihre völlige Kritiklosigkeit an Israel äußern – diejenigen verhöhnen, die am meisten unter Faschismus und Rassismus gelitten haben.
Solange von Ihnen keine Besinnung und kein Bedauern bezüglich ihrer einseitigen und inakzeptablen Stellungnahme wahrzunehmen ist, werde ich die Unterschriftenliste nunmehr als literarischen Leitfaden verwenden, zu Autorinnen und Autoren, deren Werke keinen wesentlichen kulturellen Beitrag mehr versprechen.
Mit entsetzten Grüßen; Oliver Ginsberg
Auf meine Bitte hin hat Ginsberg noch einige Angaben zu seiner Person gemacht, die ich hier weitergeben darf:
Jahrgang 1961 – war 1980 an der Gründung der Grünen beteiligt, wandte mich nach dem Jugoslawienkrieg endgültig von der Partei ab. Zum familiären Hintergrund: mein Vater war als Halbjude bis zum Kriegsende in einem Arbeitslager in der Nähe von Breslau interniert, konnte mit dem Vormarsch der Sowjetarmee fliehen. Sein Vater Eliezer, dessen Bruder Rafael und die Eltern Nahman und Rahel Ginsberg kamen alle in Rumänien um. Die genauen Umstände sind mir nicht bekannt – nur das Todesdatum meines Großvaters, der 6 Wochen vor dem Einmarsch der Roten Armee in Bukarest ums Leben kam. Er wurde 49 Jahre alt.
Ich weiß nicht, ob es wichtig ist, das zu erwähnen. Es erklärt vielleicht meine persönliche Betroffenheit, aber eigentlich sollte jeder Mensch, der noch halbwegs Empathie fähig ist, gegen diesen Genozid in Palästina aufstehen.
Soweit in Kürze.
Herzliche Grüße
Oliver
Anmerkung:
Vorstehender Beitrag von Rainer Rupp wurde am 18.11.2023 in „RT DE“ erstveröffentlicht.