Himmlisches Laientheater im bajuwarischen Idiom – Serie: Die Passionsspiele 2010 in Oberammergau (Teil 2/3)

Judaskuss: „Es wäre besser für ihn, wenn er nie geboren wäre.“

Die Passionsspiele von Oberammergau werden von Mai bis Oktober ganze 102 Mal gegeben. Stückl, der nun schon zum dritten Mal in Folge Spielleiter ist, steckte vergangenes Spieljahr die Schauspieler in 2.000 neue Kostüme und ließ 28 neue Szenenbilder entwerfen. Im Jahr 1990 folgte er noch in weiten Teilen der Inszenierung Johann Georg Langs von 1930, hat nun aber erneut Änderungen vorgenommen. Dazu schränkte er auch die Macht des Passionsspielkomitees ein. Der Daisenberg-Text wurde bearbeitet und das Stück erstmals auf den Nachmittag verlegt. Die Kreuzigung findet so in der Nacht statt.

Die Spielleiter Christian Stückl und Otto Huber wollten das Leben Jesu nicht auf sein Leiden beschränken. Jesus, ein junger Mann aus Israel wollte die Menschen zur Umkehr bewegen. Er sprach von der Liebe als wichtigstem Gebot, der Liebe zu Gott und der Liebe zu den Menschen. Am schönsten formuliert er das Gebot der Nächstenliebe in seiner Bergpredigt und fordert dort ein Ende von Hass und Gewalt. Doch ihr Christus ist streitbar: ist er Sektierer und Verführer oder Bürgerrechtsbewegter und geistliches Vorbild? Spinner und Versager oder geistliches Idol und Intellektueller? Joseph und sein Bruder verhöhnen ihn als armen Schlucker. Er hat starke Gefühle, liebt Kinder und ist ein Menschenfreund. Er ist von innigem Glauben und von einer Mission getrieben, doch sein Reich ist das Himmelsreich.

Wurde Judas bis 1990 noch politisch inkorrekt als „geldgieriger Jude“ verhöhnt, ist er seit 2000 eine gebrochene Gestalt. Ein Freund, der vom rechten Weg abkommt, dabei einen Abweg nach dem anderen nimmt, und schließlich kein Zurück mehr weiß, und sich aus Liebe zu Jesus und aus Scham und Verzweiflung erhängt. Der in seinem Stolz gefährliche Hohepriester Kaiphas lässt sich in weißem Gewand auf einem Tragesitz über den Köpfen der Menge bewegen. Der spöttische Pilatus in rotem Gewand ist ein zynischer Machtpolitiker und nicht mehr jener edle Römer, der seine Hände in Unschuld wäscht. Herodes ist oberflächlich und arrogant. Maria Magdalena ist der Muttergottes zwar nicht theologisch, dafür aber szenisch überlegen. Das Volk ist lautstark, blau gewandet, und leicht beeinflussbar. Unter den Priestern und Schriftgelehrten finden leidenschaftliche politische Diskussionen statt.

Von den Hauptdarstellern abgesehen, geht man nur für die eigene Rolle hin. Mancher der Darsteller sind schon zum siebten Mal beim Passionsspiel dabei. Etwa Peter Stückl, der Vater des Spielleiters, der mit seiner Stentorstimme als Annas überzeugt. Das Stück wird von Laien gegeben und das merkt man. Bei fünf Stunden Spielzeit ist es schwer immer zusammenzuspielen. Es finden sich die verschiedensten schauspielerischen Leistungen. Die Jugendlichen tuscheln schon mal und der Chor verdreht ängstlich vorm Publikum die Augen.

Im Alltag sind die Darsteller Schreiner, Ärztin, Konzertmanagerin, Holzbildhauer, Filmarchitekten und Hotelier, Flugbegleiterin und Zahnarzt sowie Schüler und Studenten. Um mitspielen zu können, nahmen sie sich Kurzarbeit oder verschieben ihre Abschlussarbeit.

Vor mir die schon von Richard Wagner und Max Reinhardt bewunderte riesige Breitwandbühne. Hier legen die Einheimischen zwischen den Festspielen in Bauernstücken ihre Talentproben ab. Die steinerne Bühnenarchitektur, mit Treppen, Balustraden und überdachter Mittelloge stammt in ihrer jetzigen Form aus dem Jahre 1930. Die Mittelloge flankierte man heuer mit zwei großen Olivenbäumen, die Seitengassen sollen an die Stadtmauern Jerusalems erinnern. Plötzlich rennen Kinder über die Bühne, das Spiel beginnt. Auf einem Esel reitet Jesus nach Jerusalem ein, umjubelt von Hunderten palmzweigwedelnden Menschen. Freundlich wirkt er, gewinnend, geradezu strahlend.

„Was sehe ich hier? Ist das Gottes Haus oder ist das ein Marktplatz?“, fragt Jesus, bevor er die Händler aus dem Tempel vertreibt. Dabei befreit er Opfertauben, die von der offenen Freilichtbühne effektvoll in den Himmel fliegen. Eine ganze Menagerie an Tieren wird eingesetzt: Jesus zieht auf einem Esel in Jerusalem ein, Herodes auf einem Rappen. Es gibt Lämmer, Ziegen, Hühner und Tauben, ja selbst ein Kamel und ein Dromedar. Sogar ein Lagerfeuer wird auf der Bühne entzündet. Sprechen die Schauspieler deutsch, fragt mich die irische Dame zu meiner Rechten. Nein, Bayerisch, sage ich. Kurz darauf wir Jesus verhaftet.

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Weitere Vorstellungen des Passionsspiels bis zum 3. Oktober 2010, fünfmal die Woche, jeweils von 14:30 bis 22:30 (mit dreistündiger Pause). Die Montage und Mittwoche sind spielfrei. Es gibt zu fast jeder Aufführung noch Restkarten, sowie sogenannte Arrangements, die eine Eintrittskarte mit Übernachtung und Mahlzeiten einschließen.

www.passionsspiele2010.de

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