Hautnah – Die „Lange Nacht der Autorinnen“ im Deutschen Theater in Berlin

Roter Vorhang. Quelle: Pixabay, gemeinfrei

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Mit einer bewegenden, schillernden „Langen Nacht der Autorinnen“ endeten die Autorentheatertage 2019 im Deutschen Theater, Berlin. Auch die Jury war in diesem Jahr zu 100% mit Frauen besetzt: Kulturjournalistin Esther Boldt, Filmregisseurin Valeska Grisebach und Schauspielerin Steffi Kühnert hatten aus 113 Einsendungen drei Arbeiten ausgewählt, die in Uraufführungen vom Theater Neumarkt Zürich, Schauspielhaus Graz und vom DT Berlin zu erleben waren.

Allen drei Inszenierungen war die Sorgfalt im Umgang mit den Texten anzumerken und die Begeisterung über die Entdeckung von Neuem, Kostbarem, das gebührend präsentiert werden sollte.

Flüchtig betrachtet, scheint Alexander Wolf mit seinem Bühnenbild für „Entschuldigung“ von Lisa Danulat etwas zu viel des Guten getan zu haben. Zu sehen ist ein Märchenwald mit kahlen Stämmen von Nadelbäumen, eine verlassene Feuerstelle, flankiert von ausgestopftem Fuchs und Waschbär, im Hintergrund ein riesiger, zerbrochener Spiegel, bedrohlich gezackt, und inmitten dieser Wildnis ein strahlend weißer Elektroherd mit einem zugedeckten Kochtopf.

Hier kocht die Knusperhexe ihr Süppchen, ein alter Mann, als Frau verkleidet, mit krummem Rücken Gebrechlichkeit vortäuschend, während er, auf Nordic-Walking-Stöcke gestützt, durchs Unterholz stürmt.

Nichts ist so, wie es zu sein scheint und schon gar nicht so, wie es sein sollte. „Meine Geschichte geht anders aus“, sagt Hannah. Sie will raus aus dem Gefängnis. Ihre Gedanken sind fixiert auf das Glück und das Unglück ihres Lebens. Immer wieder hört sie das Geräusch der Flipflops, mit denen ihr Geliebter in einer Hotelhalle auf sie zu kam, und immer wieder die Kälte in seiner Stimme, als er sich am Telefon von ihr lossagte.

Das verbindet sie mit Ingrid, der alten Frau, die raus will aus ihrem Leben. Auch sie hat glückliche Erinnerungen an das Geräusch von Flipflops. Es sind die ihres Sohnes, mit dem sie eng verbunden war und der nun, erwachsen geworden, gleichgültig und desinteressiert auf die Anrufe seiner Mutter reagiert.

Lisa Danulat hat zwei Fälle verbunden, die nichts miteinander zu tun haben und die nicht zu einander passen. Einerseits handelt es sich um einen Selbstmord im Bekanntenkreis der Autorin und andererseits um einen Doppelmord, der 2008 in Schweden passierte und internationale Aufmerksamkeit erregte. In einem Indizienprozess wurde eine deutsche Studentin als Mörderin verurteilt. Sie hatte beim Urlaub auf Kreta eine Affäre mit einem jungen Mann begonnen, der sich später von ihr trennte. Sie hatte das nicht akzeptiert, war ihm nach Schweden gefolgt und hatte ihn immer wieder behelligt, obwohl er mittlerweile eine neue Beziehung mit einer Mutter von zwei kleinen Kindern hatte.

Lisa Danulat hat die Details des Kriminalfalls in ihr Stück eingebaut: Zwei kleine Kinder wurden mit einem Hammer erschlagen, ihre schwer verletzte Mutter überlebte. Doch darüber denkt Hannah nicht nach. Sie hat immer bestritten, die Morde begangen zu haben.

Hannah rekapituliert die Zeit mit ihrem Geliebten, sucht dort nach dem Fehler, der ihr Leben in Schieflage und sie ins Gefängnis gebracht hat, will noch einmal anfangen und den Fehler vermeiden, damit alles gut ausgehen kann.

Auch bei Ingrid, die sich im Rhein ertränkt, ist ein Fehler passiert, der korrigiert werden müsste. Immer wieder telefonieren Mutter und Sohn, wobei der Deckel des Kochtopfs als Telefonhörer dient. Der Sohn versucht andere Worte und kommt mit seiner Freundlichkeit und Anteilnahme zu spät.

Neben moderner Kleidung sind auf der Szene Kostüme aus der Shakespeare-Zeit zu sehen. Peter Kastenmüller hat das Stück inszeniert wie eine düstere Fassung von „Ein Sommernachtstraum“. Zwei Frauen haben sich in einem verhexten Wald verirrt und finden nie wieder heraus. Es ist ein Albtraum, in den das großartige vierköpfige Ensemble vom Theater Neumarkt Zürich das Publikum mit hineinzieht.

Während Lisa Danulat bereits Erfolge als Dramatikerin vorweisen kann, ist Eleonore Khuen-Belasi eine Newcomerin. Ihr erstes Stück „Ruhig Blut“ war in der „Langen Nacht“ in einer eindrucksvollen Inszenierung vom Schauspiel Graz zu erleben.

Die klangvolle, poetische Sprache nimmt von Anfang an gefangen. Sie war es wohl auch, die Thea Hoffmann-Axthelm zu ihrem grandiosen Bühnenbild inspirierte. Khuen-Belasi hatte vorgeben, dass drei Frauen auf Plastikstühlen auf einem Gehsteig sitzen. Zu diesem profanen Bild passen der singende Tonfall und die Wortwahl der Protagonistinnen jedoch nicht.

Sie sitzen also in einem riesigen Netz aus dicken Tauen, das schräg über die Bühne gespannt ist. Gelegentlich klettern sie darin herum und sehen dann in ihren schwarz glänzenden Gewändern wie überdimensionale Spinnen aus.

Am Anfang sind sie zu viert. Während sie ein Lied singen, fällt eine von ihnen durch die Maschen des Netzes und bleibt reglos unten liegen. Die anderen bemerken das gar nicht, singen weiter und kommen dann ins Plaudern.

Die Gemütlichkeit endet, als die Frauen Risse im Asphalt der Straße bemerken. Zunächst sehen sie darin nur eine Art Unordnung, die ihnen nicht behagt, aber dann stellen sie fest, dass die Autos, die über die Risse fahren, störende Geräusche verursachen, und schließlich ist zu erwarten, dass die Risse größer werden, sich vermehren und am Ende auch den Gehsteig befallen.

Der Gehsteig aber ist das Terrain der Frauen, für den fühlen sie sich verantwortlich, den müssen sie instand halten. Von der Obrigkeit, die Risse in der Straße duldet, können sie nichts erwarten. Sie müssen tätig werden, die Risse mit Spucke verkleben. Aus den Mündern der Frauen tropfen schwarze Rinnsale.

Unerwartet müssen die mutigen Kämpferinnen sich auch noch gegen die heruntergefallene Frau zur Wehr setzen. Die ist aufgestanden, brüllt unentwegt „Wo bleibt mein Narrativ?“, und sie ist eins geworden mit dem Asphalt und dem Schmutz und Unrat darunter und drängt mit all dem nach oben.

Hier liegt eine ernsthafte Bedrohung vor, denn der Dreck, die Unterschicht und das Fremde dürfen die geordnete Welt des Gehsteigs keinesfalls erreichen.

Drei Frauen, die eigentlich nur Traditionen bewahren und ihr gewohntes Leben weiter führen möchten, werden zu Wutbürgerinnen ohne Maß und Ziel. Warnungen aus der Wissenschaft vor realen Gefahren, als Fußnoten vorgetragen, erreichen die verblendeten Rebellinnen nicht.

Präzise und eindringlich gestalten die Akteur*innen die satirische Politkomödie mit philosophischen und soziologischen Einsprengseln in der einfallsreichen Regie von Clara Weyde, die den Spannungsbogen des Stücks wirkungsvoll ausgelotet hat.

Der größte Erfolg in dieser „Langen Nacht der Autorinnen“ war das Stück von Svealena Kutschke mit dem sperrigen Titel „Zu unseren Füßen, das Gold, aus dem Boden verschwunden“. Regisseur András Dömötör hat es als intimes Kammerspiel inszeniert.

Auf der von Sigi Colpe gestalteten Bühne der Box ist ein Stuhlkreis aufgebaut. Den Boden bedeckt ein Teppich mit Orientmuster. Von oben hängt in der Mitte eine Lampe herunter. Etwa 30 Zuschauer*innen finden hier Platz, neben den fünf Personen des Stücks.

Es sind Bewohner*innen eines Mietshauses in Pankow: Das lesbische Paar Darja und Kim (Maike Knirsch und Lorena Handschin), das geschiedene Ehepaar Sarah und Ahmed (Katrin Klein und Helmut Mooshammer) und der Alkoholiker Holm (Jörg Pose).

Die zentrale Figur des Stücks, der kürzlich zugezogene, aus Syrien geflüchtete Nabil, taucht nicht auf. Er hat keine Stimme, über ihn wird nur geredet.

Darja, deren Familie aus der Türkei stammt, berichtet von rassistischen Beleidigungen in der U-Bahn, auf die sie mit Faustschlägen antwortet, denn sie glaubt, dass nur Gewalt etwas nützt.

Kims Vorfahren waren Nazis. Mit diesem Erbe belastet, ist sie zur Aussteigerin geworden. Anstatt zu studieren, arbeitet sie als Verkäuferin in einem Späti. Dort kämpft sie mit Worten gegen den erstarkenden Rechtspopulismus.

Die beiden jungen Frauen begegnen Nabil gelegentlich, fühlen sich aufgerufen, ihn zu beschützen und können seine Zerstörung nicht verhindern.

Das Stück besteht ausschließlich aus Monologen. Die Akteur*innen erzählen auf ihren Stühlen sitzend, oder begeben sich in die Mitte des Stuhlkreises. Sarah, Ahmed und Holm äußern sich nicht zu politischen Themen. Sie sind vorrangig mit sich selbst beschäftigt. Nabil ist ein Fremder, der sie zunächst wenig interessiert.

Doch auf einmal wird der fremde Mann zur Projektionsfläche, wird benutzt, ausgenutzt, löst Eifersucht aus und traumatische Erinnerungen.

Am Ende ist, dank Nabil, Sarah von ihren Depressionen und Holm von seiner Trunksucht befreit, während Nabil in der Psychiatrie vegetiert.

Die unterschiedlichen Charaktere sind sehr gut herausgearbeitet, und von allen Mitwirkenden geht knisternde Spannung aus. Sie reden nicht miteinander. Trotzdem entsteht aus den Einzelvorträgen ein zusammenhängendes Ganzes, eine Anklage, die lange nachwirkt.

Svealena Kutschke hat zwei erfolgreiche Romane veröffentlicht. „Zu unseren Füßen, das Gold, aus dem Boden verschwunden“ ist ihr erstes Stück. Die Inszenierung wird ins Repertoire des Deutschen Theaters aufgenommen und ab der kommenden Spielzeit dort zu erleben sein.

Anmerkung:

Vorstehender Beitrag von Hinrike Gronewold wurde am 12.7.2019 im KULTUREXPRESSO erstveröffentlicht.

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