Harakiri?

Die Kommission war in Sünde geboren. Diejenigen, die sie ernannten, waren nicht daran interessiert, die Wahrheit zu entdecken, sondern zu verhindern, dass eine internationale Untersuchungskommission aufgestellt wird oder eine israelisch staatliche Untersuchungskommission. Der „Aufgabenbereich“, der der Kommission zugeteilt wurde, war äußerst eng. Anfangs war die Kommission nicht einmal ermächtigt, Zeugen zu zwingen auszusagen.

Kurz gesagt: eine Kommission ohne Flügel, ein Besenstiel ohne Besen.

Ich hoffte, die Mitglieder der Kommission würden nicht einverstanden sein, nach der Flöte der Regierung zu tanzen. Es ist heute noch zu früh, darüber zu urteilen, ob sie diesen Test bestanden haben. Es kann aber schon gesagt werden: sie haben ihre Ketten zerbrochen.

Nach den Aussagen der drei Hauptzeugen in dieser Woche – Binyamin Netanyahu, Ehud Barak und Gabi Ashkenazi – kann man schon die ersten Schlussfolgerungen ziehen: die Kommission hat den Aufgabenbereich, der ihnen zugeteilt worden war, ignoriert. Der Aufgabenbereich ist verschwunden. Die Kommission erwähnte kaum das Subjekt – den völkerrechtlichen Aspekt der Aktion – deren Untersuchung ihnen aufgetragen worden war, sondern befasste sich mit allem übrigen.

Das war nicht schwierig, weil alle drei Zeugen den Aufgabenbereich, den sie selbst aufgestellt hatten, nicht beachteten. Jeder war eifrig darum bemüht, zu zeigen, wie recht und weise er war, dass das offizielle Untersuchungsthema nahezu in Vergessenheit geriet.

So wurden vollendete Tatsachen geschaffen: die Kommission wird nicht mehr an ihren Aufgabenbereich gebunden, sondern beschäftigt sich mit allen Aspekten der gescheiterten Operation. Der Aufgabenbereich kann jedoch noch einmal auftauchen, wenn die Zeit kommt, den Bericht zusammen zu stellen.

Es war interessant zu beobachten, wie die drei Zeugen von den Medien aufgenommen wurden.

Fast alle Medien fielen über die beiden ersten Zeugen her und glorifizierten den dritten.

Netanyahu war nachlässig, ja frivol, legte alle Verantwortung auf Barak und war nicht einmal mit den Tatsachen vertraut. Schließlich war er zu dem Zeitpunkt im Ausland – was wollte man also von ihm; es war Barak, der die Angelegenheit ohne fremde Hilfe durchgeführt hat.

Nachdem die Medien ihn aufs Schärfste angriffen, berief Netanyahu schnell eine improvisierte Pressekonferenz ein und verkündete großspurig, er nehme alle Verantwortung auf sich.

Barak war sorgsamer. Er sprach endlos, überschwemmte die Kommission mit einer Flut von Details und übernahm auch die Verantwortung auf sich, stieß sie aber sofort nach unten zum Militär weiter. Er gab an, die Regierung habe die Entscheidung für die Mission getroffen, für die Ausführung sei aber das Militär zuständig. Auch er wurde scharf von den Medien angegriffen.

Der Stabschef wies auf die Fehler bei der Ausführung der Operation hin. Sie war von unteren Militärrängen, der Marine und dem Armeenachrichtendienst, ausgeführt worden. Aber er nahm mit eindrucksvollem Großmut auch für diese die Verantwortung auf sich.

Seine Zeugenaussage war ein Meisterstück. Überraschenderweise schien er viel gewiefter als die beiden erfahrenen Politiker zu sein. Während sie wie schlüpfrige Aale aussahen und es nur darauf abgesehen hatten, sich selbst zu verteidigen, erschien er wie ein liebenswürdiger, schusseliger, unkomplizierter Bär, ein einfacher, ehrlicher Soldat, der Integrität ausstrahlt und der die Wahrheit sagt, weil er nichts anderes weiß.

Ashkenazi ist viel raffinierter, als er aussieht. Seine Zeugenaussage könnte von seinen Beratern ausgearbeitet worden sein, aber die Klugheit eines Führers zeigt sich auch in der Fähigkeit, kluge Berater auszusuchen.

Noch einmal wurde bewiesen, dass die Medien – und tatsächlich der ganze Staat – von der Armee beherrscht wird. Dieselben Bemerkungen, die höhnisch begrüßt wurden, wenn sie von Netanyahu und Barak geäußert wurden, wurden mit Ehrfurcht aufgenommen, wenn sie vom Stabschef kamen. Ein Chor von Bewunderern pries ihn im Fernsehen, im Radio und in den Zeitungen. Was für eine ehrenhafte Person! Was für ein aufrechter Soldat! Was für ein verantwortungsbewusster, ausgeglichener Kommandeur! Falls überhaupt ein Unterschied zwischen den uniformierten Armeesprechern und den Militärkorrespondenten in Zivil bestand, war er kaum zu bemerken.

Der allgemeine Eindruck, den man nach den drei Hauptzeugen hatte, ist ziemlich klar: es hatte keine ernsthaften Vorbereitungen gegeben, um sich mit der Flotille zu befassen, obwohl die Pläne für ihr Kommen viele Monate im voraus bekannt waren. Alles war in amateurhafter Weise ausgeführt worden nach der berühmten Tradition israelischer Improvisation, „verlass dich auf mich“ und „es wird OK sein“.

Die vorigen Hilfsschiffe hatten nur gewaltfreie Friedensaktivisten an Bord, und jeder nahm an, das würde so weitergehen. Keiner achtete darauf, dass viele der türkischen Aktivisten (möglicherweise) mit einer völlig anderen Ideologie erfüllt waren. Wer kümmert sich schon darum, was Türken denken. Der glorreiche Mossad hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen Agenten unter die Hunderte von Aktivisten an Bord zu schleusen.

Die Planung für die Operation war schludrig, ungenügende Information, ohne Alternativen in Erwägung zu ziehen und mit potentiell gefährlichen Szenarien zu rechnen. Schließlich musste man kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass die türkischen Aktivisten, voll religiösem Eifer, sich vermutlich mit Gewalt gegen die Invasion eines türkischen Schiffes durch israelische Soldaten auf hoher See wehren würden. Was für eine Überraschung!

Welches ist die Schlussfolgerung? Der Stabschef gab es, ohne zu zögern, bekannt: Das nächste Mal wird die Armee Scharfschützen einsetzen, die jeden abknallen werden, der an Deck ist, (oder in der Sprache der militärischen Kommentatoren „jeden Angreifer“) während sich die Soldaten von Hubschraubern abseilen.

Da Netanyahu und Barak alle Verantwortung auf das Militär schoben und Ashkenazi auf die Planungs- und Ausführungsfehler verwies, erhob sich eine praktische Frage: wie können die Mitglieder der Turkel-Kommission einen ernsthaften Job tun, wenn es ihnen nicht erlaubt wird, militärisches Personal zu befragen?

Um dem Problem zuvorzukommen, warf ihnen der Stabschef zwei Knochen zu: Dem Armee-Anwalt Giora Eyland wird es erlaubt sein, auszusagen. (Eyland ist der General im Ruhestand, der die interne Untersuchung durchführte). Aber das reicht bei weitem nicht aus. Um seinen Auftrag zu erfüllen, muss die Kommission die Aussagen vom Marinechef und seinem Stab hören. Als Antwort auf die Petition von Gush Shalom hat der Oberste Gerichtshof darauf verwiesen, dass, wenn Turkel ihr Erscheinen wünscht, das Gericht sie dazu zwingen wird auszusagen.

Keiner der drei Zeugen streifte die Hauptfrage: die Existenz der Gaza-Blockade selbst.

Bei dem schicksalhaften Treffen „der Sieben“ (die ranghohen Minister) war klar, dass sie alle von der Notwendigkeit der Blockade überzeugt waren, wie auch von der Notwendigkeit, mit Gewalt jeden Versuch zu unterdrücken, die Blockade zu brechen.

Die rechtliche Seite der Sache wird noch eine große Debatte nach sich ziehen. Es scheint, dass das Völkerrecht hier unklar ist, was die Verhängung und die Durchführung einer Blockade betrifft. Das Gesetz ist noch nicht schriftlich festgelegt. Es erlaubt viele verschiedene Interpretationen. Es gibt keine einzige, abgestimmte und klare Antwort.

Die wirkliche Frage ist auf jeden Fall keine juristische, sondern eine moralische und politische: zu welchem Zweck wurde die Blockade verhängt?

Alle Zeugen, die bisher erschienen sind, wiederholten dasselbe Argument: wir sind im Krieg mit dem Gazastreifen (egal wie seine legale Position ist), die Blockade ist dafür bestimmt, die Einfuhr von Kriegsmaterial zu verhindern. Deshalb sei es legal und moralisch.

Aber das ist eine komplette Lüge.

Es ist sehr einfach, die Bewegung von Cargoschiffen auf dem Meer zu kontrollieren. Bei solchen Fällen ist es üblich, die Schiffe auf hoher See zu stoppen, die Ladung zu kontrollieren, Kriegsmaterial – wenn vorhanden – zu beschlagnahmen und dem Schiff die Weiterfahrt zu erlauben. Die Ladung kann auch in den Abfahrtshäfen kontrolliert werden.

Diese Methode wurde nicht angewandt, weil die ganze Sache mit dem Kriegsmaterial nichts anderes als ein Vorwand ist. Das Ziel der Blockade ist genau das Gegenteil: den Transfer von nicht militärischen Waren zu verhindern, dieselben Waren, die auch nicht auf dem Landwege eingeführt werden durften: viele Sorten von Lebensmitteln und Medikamenten, Rohmaterial für die Industrie, Baustoffe, Ersatzteile und viele andere Waren, von Schulheften bis zu Wasserfiltern.

Das Wenige, das das Leben noch erträglich machte, kam durch die Tunnel, und die Preise waren unermesslich, weit über dem, was sich die meisten Bewohner leisten können.

Von Anfang an war es der Zweck, das normale Leben im Gazastreifen zu unterbrechen, die Bevölkerung an den Rand der Verzweiflung zu bringen, sie dazu zu bewegen, sich zu erheben und die Hamasregierung zu stürzen. Dieses Ziel wurde offensichtlich von der US-Regierung und ihren Satelliten in der arabischen Welt und vielleicht – wie einige glauben – auch von der palästinensischen Behörde in Ramallah unterstützt.

Netanyahu behauptet in seiner Aussage, dass es „keine humanitäre Krise im Gazastreifen gegeben habe“. Das hängt sehr von der Deutung des Terminus’ ab.

Es stimmt, die Leute starben nicht vor Hunger oder Krankheiten auf den Straßen. Es war kein Warschauer Ghetto. Aber es gibt eine weit verbreitete Unterernährung unter den Kindern, Elend und Armut. Die Blockade verursacht allgemeine Arbeitslosigkeit, weil fast alle industrielle und landwirtschaftliche Produktion unmöglich gemacht wurde. Es gab keinen Import von Rohmaterial, überhaupt keinen Export, ungenügend Brennstoff. Gazas Produkte waren nicht in der Lage, die Westbank, Israel oder Europa zu erreichen. All dies trifft auch jetzt zu, obwohl die Flotille einen teilweisen Erfolg hatte, und die israelische Regierung gezwungen war, viele Güter hinein zu lassen, die vorher blockiert waren.

Die Absperrung des Gazahafens hat zur humanitären Krise beigetragen. Vor siebzehn Jahren schrieb Shimon Peres: „Der Gazahafen hat ein sehr großes Potential zu wachsen. Die Waren und Ladungen, die man dort verfrachten wird, die seine Tore auf dem Weg zu israelischen, palästinensischen, jordanischen, saudi-arabischen und sogar irakischen Empfängern verlassen, wird die wirtschaftliche Revolution illustrieren, die die ganze Region erfassen wird.“ Vielleicht sollte Peres vorgeladen werden, um dies auszusagen.

Das Schlüsselwort in allen Aussagen war „Verantwortung“. Jeder Zeuge übernahm Verantwortung und stieß sie so weit wie möglich von sich – wie Fußballspieler, die einen Ball bekommen und ihn an jemand anderen weitergeben.

Was bedeutet Verantwortung? Es war einmal eine Zeit, als ein japanischer Führer die Verantwortung für einen Misserfolg übernahm: er stieß sich ein Messer in den Bauch – dies wurde Hara-kiri („Bauchschnitt“) genannt. Solch eine barbarische Sitte existiert im Westen nicht, aber auch dort tritt ein verantwortlicher Führer, der für einen Fehlschlag verantwortlich war, zurück.

Nicht hier. Wenigstens nicht jetzt. Hier erntet eine Person, die „Verantwortung übernimmt“ Lob und Anerkennung. Wie mutig! Wie edel! Er übernimmt Verantwortung!

Und damit ist der Fall erledigt.

Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Die Erstveröffentlichung erfolgte unter www.uri-avnery.de am 14.08.2010. Alle Rechte beim Autor.

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